Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)
wissen.
Wird das Holz für den Scheiterhaufen auch brennen oder ist es zu nass geworden, das ist die bange Frage, als sie sich in schweigenden, geschlossenen Reihen mit Fackeln zum Vögenteichplatz begeben. Doch die Rostocker Studentenschaft hat an alles gedacht. Schon vor Tagen haben sie vor dem Hauptportal der Universität einen Schandpfahl errichtet, an den symbolisch ein Exemplar der
Weltbühne
und Bücher von Magnus Hirschfeld, Erich Maria Remarque und anderen genagelt wurden, und nun hält der erste die Fackel ans Holz und ja, es brennt, es brennt, beifälliges Raunen mischt sich mit dem Prasseln der Flammen.
»Gegen Klassenkampf und Materialismus, für Volksgemeinschaft und Idealismus! Ich übergebe dem Feuer die Schriften von Marx und Kautsky!«
Buchpakete fliegen, die Menge applaudiert. Bald schon stieben die Funken bis in den Himmel, an dem sich nun sogar ein blasser Halbmond zeigt, als wären die Mächte des Himmels auf ihrer Seite.
»Gegen Dekadenz und moralischen Zerfall! Für Zucht und Sitte in Familie und Staat! Ich übergebe der Flamme die Schriften von Heinrich Mann, Ernst Glaeser und Erich Kästner!«
Wieder tost Beifall, nun geht es Schlag auf Schlag. Buchpaket um Buchpaket wird von den Lastwagenhängern geladen und in Ketten zum Feuer gereicht. Zehn, zwanzig, dreißig sind es bald.
»Gegen Gesinnungslumperei!«
»Gegen Verfälschung unserer Geschichte!«
»Gegen volksfremden Journalismus demokratisch-jüdischer Prägung!«
Und so weiter, immer weiter, Hunderte Bücher werden dem Feuer überantwortet, Tausende, nicht mehr zu zählen. Und schließlich der Abschluss, der Höhepunkt, das Horst-Wessel-Lied, das längst nicht mehr nur die SA auswendig kennt.
»Die Fahnen hoch, die Reihen fest geschlossen …« Gewaltig klingt das aus so vielen hundert Männerkehlen. Und die Flammen lodern und lodern, noch lange nachdem die letzte Strophe verklungen ist und sich die Versammlung allmählich auflöst, lodern und glühen, fast taghell ist der Platz beleuchtet.
»Ein Beitrag meiner Tochter, sie hat darauf bestanden.« Theodor zieht die beiden Bücher aus seiner Tasche, als Wilhelm Petermann und er näher zum Feuer treten.
»Deine Amalie, ja?« Petermann lächelt versonnen und mustert die beiden Titel, sieht Theodor dann ins Gesicht. »Nun denn, Kamerad, worauf wartest du?«
Ja, worauf, in der Tat? Jetzt kann er nicht mehr zurück, auch wenn er sich das plötzlich wünscht, denn nun kommen ihm völlig unpassenderweise Hermanns Unkenrufe in den Sinn und im nächsten Moment auch noch der beinlose, kopflose Erich auf dem Schlachtfeld und diese düstere Prophezeiung aus Heinrich Heines
Almansor
. Wie hieß es da noch, als der Koran in den Flammen lag?
Dort, wo man Bücher verbrennt, verbrennt man bald auch Menschen.
Unsinn, Theodor, Unsinn. Das hier sind nur zwei Bücher für Kinder. Er holt aus und schleudert sie ins Feuer, und da, mitten im Flug, kommt es ihm einen Augenblick lang so vor, als sei dieses Mädchen auf dem Einband Amalie, die Hand in Hand mit einem Jungen vor ihm wegläuft, dann verschlingen die Flammen das Bild, und neben ihm schlägt Wilhelm die Hacken zusammen und hebt die Hand zum deutschen Gruß.
»Heil Hitler!«
14. Rixa
Gibt es so etwas wie ein Selbstmordgen? Eine vererbbare Neigung, sich das Leben zu nehmen? Die Frage ging mir nicht aus dem Kopf, ließ mir keine Ruhe. Womöglich hatte sich meine Tante Amalie umgebracht. Ein Verstoß gegen das fünfte Gebot. Ein Verbrechen. Eine Schande, zumal für eine Pfarrersfamilie. Das würde vielleicht erklären, warum niemand sie je wieder erwähnte. Aber andererseits hatte mein Großvater ab 1944 auch Selbstmörder bestattet. Wegen Amalie, war das ihr Todesjahr? Aber selbst wenn das stimmte, was war damit beantwortet? Nicht die Frage, warum sie so verzweifelt gewesen war, dass sie nur diesen Ausweg sah. Und erst recht nicht, ob die Unfälle meiner Mutter und meines Bruders wirklich Unfälle gewesen waren.
Fragen. Vermutungen. Spekulationen. Nichts und niemand schien seit der Beerdigung meiner Mutter noch so zu sein, wie ich immer gedacht hatte.
Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können.
Wer hatte das noch gesagt? Der deutsche Dichter Jean Paul, verriet mir das Internet. Aber Erinnerungen waren nicht verlässlich, ja vielleicht nur Erfindung. Unser Hirn ist ein Lügner, schrieb ein Wissenschaftler, auf dessen Thesen zur neurologischen Hirnforschung ich eines Nachts stieß. Millionen und
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