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Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)

Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)

Titel: Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisa Klönne
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Abermillionen graue Zellen verknüpfen sich immer und ständig neu, selbst wenn wir schlafen, ruhen sie nicht, sondern versuchen alle Reize und Informationen des zurückliegenden Tages zu verarbeiten, einzuordnen, abzuspeichern. Und während unser Hirn so beschäftigt ist, bewertet es alles Vergangene, passt es den neuen Erlebnissen an, deutet Altes um. Ein beständiges Wabern, Verbinden, Vergessen, Verändern ist das, Abermillionen Nervenzellen und -bahnen sind daran beteiligt. Unser eigenes Hirn würde sein jüngeres Selbst von vor zehn oder zwanzig Jahren vermutlich gar nicht mehr wiedererkennen, so sehr hat es sich verändert, schrieb der Forscher.
    Wir sprachen darüber, Alex und ich, mein Bruder fand solche Wissenschaftsthesen natürlich sehr einleuchtend und spannend. Trotzdem durchforsteten wir unsere Kindheitserinnerungen nach Wahrheiten. Verglichen sie miteinander, versuchten sie mithilfe von Fotos zu untermauern. Nie hatte jemand Amalie erwähnt oder Sellin, darin waren wir uns einig. Wir Hinrichs waren jahrelang zu den Großeltern nach Poserin gefahren, danach an die Ostsee, zu Onkel Markus nach Zietenhagen. Unsere Mutter war beim Grenzübertritt immer besonders still und angespannt, überhaupt schien sie, solange wir uns in der DDR aufhielten, immer ein wenig gedämpft zu sein, noch stiller als sonst, auf der Hut. Und doch waren sowohl Alex als auch mir unsere Ferien in Poserin als weitgehend unbeschwert in Erinnerung geblieben. Wir waren dort noch Kinder gewesen, wahrscheinlich deshalb. Wir hatten uns an den Händen gefasst und uns einig gefühlt, eins, ewig, wenn wir unser Tauchspiel spielten, auch was das anging, stimmte Alex mir zu. Doch ob Ivo das genauso empfunden hatte, vermochten wir nicht mehr zu klären, und was das Hühnerorakel betraf, konnten nicht einmal Alex und ich uns einigen. Unser kleiner Bruder hatte gemogelt, daran hielt Alex fest, zumindest fand er das immer noch wahrscheinlich. Ich glaubte ihm nicht, in meiner Erinnerung hatte Ivo unser Orakel nicht einmal überproportional häufig gewonnen. Und selbst Alex, der damals im Hühnerstall bereit gewesen wäre zu beschwören, dass Ivo schuldbewusst auf seinen Vorwurf reagierte, wurde nun plötzlich unsicher, möglicherweise war er ja seinen Erwartungen auf den Leim gegangen und hatte nur gesehen, was er sehen wollte.
    Erinnerungssplitter. Bilder und Worte. Rekonstruktionen, die das Scheitern schon in sich trugen. Später kamen mir nicht nur unsere Gedankenspiele über die Geschichte unserer Familie, sondern die ganze Zeitperiode nach der Beerdigung unwirklich vor: wie ein Film oder Roman, bei dem man zwar intensiv mitfiebert, an dem man aber dennoch nicht beteiligt ist. Alex und ich blieben noch zwei Tage in Köln, wir sprachen noch einmal mit diversen Onkeln und Tanten und mit meinem Vater, ohne dabei etwas wirklich Erhellendes zu erfahren. Zurück in Berlin kämpften wir mit diversen Behörden und Versicherungen und einem schier unübersehbaren Berg von Formularen. Wir durchforsteten die Besitztümer unserer Mutter, blätterten stundenlang in alten Fotoalben, aßen zu viel Pizza und Asiagerichte vom Lieferservice, tranken zu viel Wein und zu viel Kaffee. Wir scheiterten mit allen Versuchen, die amerikanische Vorbesitzerin des Selliner Pfarrhauses ausfindig zu machen und zu ergründen, woher unsere Mutter das Geld gehabt hatte, das Haus zu bezahlen, ohne je einen Kredit aufgenommen zu haben.
    Wir wollten nach Sellin fahren und das Pfarrhaus gemeinsam untersuchen. Es sei durchaus möglich, darin zu übernachten, versicherte die Beauty-Oase-Besitzerin Moni uns am Telefon. Sie werde die Heizung sehr gern für uns anschalten – eine Fußbodenheizung, die die Amerikanerin habe einbauen lassen, genauso wie neue Fenster und Böden und das schöne Bad. Reich sei die gewesen, eine feine, exzentrische Dame um die sechzig, die wohl von Ferien auf dem Land träumte und kein einziges Wort Deutsch sprach und dann, als das Haus endlich modernisiert war, doch nicht einzog, sondern es verkaufte, vielleicht wegen der dämlichen Skinheadjungs, die damals an dem Getränkeshop am Ortseingang herumgelungert hatten und sich betranken, doch seitdem der Getränkeshop dicht gemacht habe, sei dieses Problem Gott sei Dank erledigt. Die Hakenkreuzschmiererei an der Pfarrhaustür! Ich schilderte Moni meine Theorie von den jüdischen Vorfahren der Amerikanerin namens Müller, die einst in dem Pfarrhaus gelebt hatten. Sie hielt das für unmöglich, versprach aber

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