Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)
Piet kam vorbei und brachte mir einen Korb mit frischem Obst. Ein paar Tage später klingelte Wolle und übergab mir eine Tafel Schokolade sowie die Papiere und Schlüssel für meinen Transit, und etwas an der Art, wie sein Blick an mir vorbei durch die Wohnung irrlichterte, gab mir zu verstehen, dass es vielleicht an der Zeit war, wieder aus meiner Höhle zu kriechen.
Aber ich schaffte es nicht, nicht sofort jedenfalls. Ich bezog zwar das Bett neu und stopfte Schmutzwäsche in die Waschmaschine, aber dann verließ mich der Elan wieder und ich erinnerte mich, dass Alex und ich im Wohnzimmerregal das Kinderbuch
Schlierilei
entdeckt hatten, aus dem uns unser Großvater in Poserin früher vorgelesen hatte; nach seinem Tod musste meine Mutter das wohl geerbt haben. Oder hatte ich mir das nur eingebildet? Nein, es war wahr, ich fand das Buch in einem der chaotisch aufgetürmten Stapel und schleppte es wie eine Beute ins Bett.
Schlierilei. Ein Tiermärchen von Dr. Rudolf Rinkefeil.
Der verblichene grüne Leineneinband mit der Goldprägeschrift, so vertraut. Die Zeichnungen und farbigen Jugendstilbilder von Wiesen, Elfen, Schnecken, Kröten, Ameisen, Käfern. Ihre drolligen Namen: Die Schneckenmutter Plattesohl, die Schlierilei und ihre beiden Geschwister zur Welt bringt. Der böse Vetter Fritz Eidechs, der seinen Schwanz verliert, die Froschpatentanten Hyla und Rana mit den Zauberkräften. Bartel, der Steinpilz, der Schlierilei vor das Pilzfemegericht von Oberstaatsanwalt Knollenblätterschwamm zerrt, weil sie seinen Hut anfrisst, der Frieden stiftende Herr Rettich und der flatterhafte Schmetterling Papilio. Die Hummel, die Laute spielt. Die Stimme meines Großvaters, ganz tief in mir.
Was die Kinder alle lieben,
steht in diesem Buch geschrieben.
Wald und Wiese, Kleingetier
lebt und webt und redet hier.
Fühletrudchen, Schlierilei,
Fresselinchen, alle drei,
Sind sie auch noch dumm und klein,
Wollen deine Freunde sein.
Ich blätterte durch die Seiten, bewunderte die Bilder und Zeichnungen und den Wortwitz der Erzählung aufs Neue. Mein Großvater hatte mit verstellten Stimmen für uns gelesen, jeder Satz wurde lebendig. Er hatte Humor und Sinn für Dramatik und Geheimnisse, die Kinder fesselten. Lange, ausführlich hatten wir mit ihm gemeinsam die Bilder begutachtet und die Wiesen und Wälder und Seen bei unseren nächsten Spaziergängen mit ganz neuen Augen betrachtet. Ein Buch für uns alle war das: Bilder für Ivo, Reime und Lieder für mich, Tiere und Pflanzen für Alex. Im Anhang gab es sogar eine alphabetische Liste zur vorgestellten Flora und Fauna, mit lateinischen Namen.
Wann war das Buch eigentlich erschienen? 1926, verriet mir die erste Seite. In einem Verlag für Volkskunst und Volksbildung aus Lahr in Baden. Volkskunst, wahrhaftig. Schon die Vorsatzseite hatte die Illustratorin Franziska Schenkel als Dschungel aus grünen Farnen, Blättern und Gräsern gestaltet, zwischen denen sich bei genauerem Hinsehen die Protagonisten der Geschichte verbargen.
Amalie 1936
. Ich stutzte. Ganz dünn, mit Bleistift stand das da, in Kinderschreibschrift unter den Hut eines Pilzes gekritzelt.
Amalie, dieses Buch hatte einmal Amalie gehört, zumindest hatte sie sich darin verewigt. Mein Großvater musste das gewusst haben. Oder nicht? Was hatte seine Tochter getan, dass er es übers Herz brachte, sie niemals mehr zu erwähnen und seinen Enkeln aus dem Buch vorzulesen, das sie offenbar einst geliebt hatte? Der Großvater mit den SA-Kameraden. Der Großvater, den ich liebte. Der Pfarrer. Der gütige Großvater, den ich behalten wollte. Das deutsche Drama, die urdeutsche Frage: Wann wurdest du geboren, wann deine Eltern und Großeltern? Wo sind sie von 1933 bis 1945 gewesen? Wer sind sie wirklich? In der Schule hatten wir uns zum ersten Mal mit dem Nationalsozialismus beschäftigt, in der siebten oder achten Klasse, zuvor hatte nie jemand mit uns ausführlich darüber gesprochen. Stundenlang hatte ich damals in den Unterrichtsmaterialien die Gesichter von KZ-Aufsehern und Wehrmachtsoffizieren betrachtet und versucht zu ermessen, was sie getan hatten, und mir vorgesagt, dass sie Massenmörder waren. Ich hatte geglaubt, man müsste ihnen das ansehen, doch das erwies sich als Irrtum. Weil sie so normal aussahen, so menschlich.
Und meine Großmutter, Elise, was war mit ihr?
Sie hat ihren Theodor so sehr geliebt, Ricki. Sie hätte alles für ihn getan. Ich weiß noch genau, wie sie jeden Morgen im Nachthemd als Erstes in
Weitere Kostenlose Bücher