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Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)

Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)

Titel: Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisa Klönne
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dir ein Taxi.«
    Wieder die Lichter der Stadt, die vorbeiglitten, nicht mehr von Schnee reflektiert, sondern schwimmend im Regen. Die wenigen Meter Fußweg vom Taxi zum Wohnhaus meiner Mutter erschienen mir endlos, im Aufzug widerstand ich nur mit Mühe dem Drang, mich einfach auf den Boden der Kabine sinken zu lassen, und als ich endlich in der Wohnung angekommen war, zog ich nur Stiefel und Jacke aus und kroch zwischen die Laken im Schlafzimmer, die jetzt nicht mehr nach meiner Mutter rochen, sondern nach Alex’ Aftershave, aber das war das Letzte, was ich noch wahrnahm.
    Als ich wieder aufwachte, war es bereits Mittag. Graugrünes Winterlicht sickerte durch die Gardinen. Etwas maunzte. Othello. Er kauerte neben dem Bett auf dem Boden und fixierte mich aus runden Augen.
    »Du hast Hunger, ich weiß.« Meine Stimme war tonlos, ein heiseres Flüstern. Ich versuchte mich aufzusetzen, kämpfte gegen den Schwindel an. Halsschmerzen, Kopfschmerzen, ich bekam kaum noch Luft durch die Nase und war klatschnass geschwitzt. Irgendwie schaffte ich es trotzdem bis in die Küche, dann unter die Dusche, dann wieder ins Bett. Als Kind war ich immer dann krank geworden, wenn mich etwas überforderte oder ich mich mit jemandem gestritten hatte, jedenfalls lautete so die Diagnose meiner Mutter. Ich war gar nicht wirklich krank, ich floh nur. Doch die Symptome waren echt. Ich bekam undefinierbare, scharlachähnliche Ausschläge oder Halsschmerzen und Fieber. Ich weiß noch, dass ich immer ein schlechtes Gewissen hatte, weil ich meiner Mutter als Patientin so viel Arbeit machte. Zugleich aber wollte ich ewig im Bett liegen bleiben und von ihr die Kissen aufgeschüttelt bekommen und fühlen, wie sie mit ihrem kühlen Handrücken auf meiner Stirn prüfte, ob das Fieber gesunken war, und mir das Haar aus der Stirn strich. Selbst die kalten Wadenwickel akzeptierte ich, ohne zu murren.
    Ich war ihr Kind, einfach nur ihr Kind, wenn ich krank war. Sie erzählte mir dann auch keine verstörenden Nachtgeschichten. Stattdessen brachte sie mir Bilderbücher, und ich durfte Musikkassetten hören – nicht Beethoven zwar, aber Chopin und Schubert. Und manchmal sang sie mir vor dem Einschlafen, wenn das Licht schon gelöscht war, sogar etwas vor.
Der Mond ist aufgegangen
, oder
Guten Abend, Gute Nacht, mit Rosen bedacht
, das mochte ich besonders. Ich fühlte mich geliebt, das war wohl, was mich – ein sonst relativ wildes Kind – zu einer ausnehmend geduldigen Patientin machte. Und um nichts in der Welt hätte ich auf die von ihr auf dem geblümten Plastiktablett angerichteten Mahlzeiten verzichtet, die sie mir ans Bett trug: Griesbrei mit selbst gekochtem Birnenkompott. Gurkenscheiben mit Schnittlauchquark. Hühnersuppe. Frisch gepressten Grapefruitsaft, den ich so viel lieber trank als den aus Orangen.
    Doch das war Jahre, nein, Jahrzehnte her. Seit ich von zu Hause ausgezogen war, wurde ich nur noch selten krank, und auf der Marina hatte ich gelernt, so gut wie jede Erkrankung mit allerlei Tricks und Kniffen im Frühstadium zu ersticken oder zumindest so zu überstehen, dass sie das Unterhaltungsprogramm für die Gäste nicht gefährdeten. Ich spielte mein Repertoire in der Lili Bar mit Blasenentzündung und in einem von zu viel Hustenmitteln fast in den Schlaf sedierten Zustand, zwei Wochen auch mit einem böse verstauchten Fußknöchel, von dem jedes Mal, wenn ich das Pedal treten musste, Schmerzwellen bis in meine Hüfte hinaufschossen. Ich war wirklich hart im Nehmen geworden, wie alle, die auf der Marina zur Stammcrew gehörten. Aber jetzt hatte ich keine Kraft mehr, ich schleppte mich nicht einmal mehr zum Einkaufen oder zu einem Arztbesuch aus der Wohnung, sondern behalf mir mit den Tees und Dosengerichten und Arzneivorräten meiner Mutter.
    Nebeltage waren das, so kam es mir im Nachhinein vor. Tage und Nächte, unentwirrbar miteinander verschmolzen, ja kaum noch voneinander zu unterscheiden. Manchmal klingelte das Telefon meiner Mutter, manchmal auch mein Handy. Manchmal ging ich dran und sagte, dass alles in Ordnung sei und es mir gut gehe, bis mir plötzlich auffiel, dass ich dabei klang wie meine Mutter. Einmal lag ich stundenlang wach, mit rasendem Herzen, weil ich auf eine Nachfrage meiner Reederei hin einfach in drei Sätzen auf der Marina gekündigt hatte. Irgendwann dämmerte ich wieder weg, und als ich das nächste Mal aufwachte, war ich mir nicht mehr sicher, ob ich diesen formlosen Abschied vielleicht nur geträumt hatte.

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