Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)
gespielt, und auch jetzt, da ich allmählich wieder zu Kräften kam, konnte ich mich nicht dazu aufraffen, obwohl mir meine Finger ohne die gewohnte, stundenlange Berührung der Tasten zuweilen regelrecht nackt vorkamen. Einmal schreckte ich nachts hoch, weil ich geträumt hatte, meine Fingerkuppen wären für immer taub geworden, fühllos, unfähig, jemals wieder zu spielen. Den Rest der Nacht lag ich mit hämmerndem Herzen wach und versuchte mich davon zu überzeugen, dass das nur ein Hirngespinst war und niemals Wirklichkeit würde, nur eine Angst, eine grundlose, alberne Angst, nichts weiter.
Die Musik blieb mir trotzdem, in meinem Kopf: all die Songs und Partituren, die ich im Laufe der Jahre gespielt hatte, ein konstantes, vielstimmiges Raunen, das nie ganz verstummte. Doch ich vermisste nicht nur den Klang, sondern auch die rein physische Erfahrung des Klavierspielens. Ich begriff erst jetzt, wie sehr dies mein Leben war: der leichte Widerstand der Tasten unter meinen Fingern, ihre kühle Glätte, die sich allmählich meiner Körpertemperatur angleicht. Die schwarzen, erhobenen, kürzeren, schmaleren Tasten, die kaum merklich rauer sind als die weißen; anders glatt, anders eingefärbt, aus einem anderen Material. Elfenbein und Ebenholz, so war das früher. Jedes Klavier, jeder Flügel hat einen ganz eigenen Anschlag. Bei jeder Tastatur muss man erst herausfinden, wie groß ihr Spielraum ist und wie lange es also dauert, bis die Saiten zu klingen beginnen. Und man muss auch jene Zeitspanne ins Spiel einbeziehen zu lernen, in der dieser Ton noch stumm und dennoch vorhanden ist – als Erwartung im Kopf, vielleicht auch als Schwingung jenseits des menschlichen Hörvermögens.
Man kann diesen unhörbaren Klang auskosten, wenn man mit einem Klavier oder einem Flügel vertraut geworden ist. Man kann ihn verlängern oder verzögern – Bruchteile von Sekunden lang, eine Sekunde, länger. Und genauso kann man Töne nachklingen, ausklingen, verstummen lassen, ohne die Hände von den Tasten zu lösen. Im Laufe der Jahre hatte ich sogar gelernt, den Lufthauch zu hören, der zwischen den Tasten reibt, wenn sie bewegt werden, eine Art Wind, ein Rauschen.
Ich lag wach und stellte mir all das vor, fühlte imaginäre Tasten unter meinen Fingern, morste Musik auf die Bettdecke, suchte mich zu beruhigen. Zehn Finger, die dirigieren. Eine Welt, ein Orchester. Man kann hineinkriechen in den Klang, dicht über der Tastatur kauern, oder die Tonfolgen erweitern und in den Himmel entlassen, wenn man sich weit zurücklehnt.
Ich hätte das Klavier meiner Kindheit stimmen lassen können oder noch einmal in die Bar gehen, nun da ich wieder gesund war. Ich tat es nicht, etwas hinderte mich. Ich verstand nicht, was eigentlich, und das machte mir Angst, es fühlte sich an wie zu fallen, ein endloser Bungeesprung, tiefer und tiefer. Ich hatte der Reederei meine Kündigung auch schriftlich geschickt, vielleicht lag es daran. Irgendwann würde jemand meinen Koffer mit nach Berlin nehmen und mir übergeben, dann wäre dieses Kapitel meines Lebens beendet. Ich kündigte auch den Mietvertrag für die Wohnung meiner Mutter und den meiner eigenen Hinterhofbleibe. Ich organisierte ein Umzugsunternehmen und eine karitative Initiative, die auf Haushaltsauflösungen spezialisiert war. Ich entschied, was ich in Sellin brauchen würde und was nicht, und das, was ich tatsächlich brauchte oder haben wollte, war wenig.
Das Pfarrhaus ist eine Stadt auf dem Berge, es hat durchsichtige Wände –
ganz unten im Schrankfach mit der Tischwäsche fiel mir dieses Wandbild in die Hände
.
Sorgfältig gestickte Buchstaben hinter Glas, altrosa auf lindgrün, in einem hölzernen Rahmen. Ich legte es auf den Stapel der Dinge aus dem Schlafzimmer, die ich mitnehmen wollte, und erzählte Alex davon, als wir an diesem Abend telefonierten.
»Wände wie aus Glas, immer ein leuchtendes Vorbild sein müssen für die Gemeinde. Wahrscheinlich kam daher Mamas Perfektionswahn, und den hat sie auch an Ivo vererbt, nur dass er sich bei ihm ganz anders manifestiert hat, eher exhibitionistisch als hinter vorgezogenen Gardinen. Und du bist doch letztlich genauso, immer korrekt, immer unter Strom, immer ganz vorn mit dabei …«
»Und du, Rixa, was ist mit dir?«
»Ich hab eingesehen, dass es bei mir nicht reicht für die große Konzertkarriere.«
Eingesehen, einsehen müssen. Ich hätte mir nachträglich noch ein Attest besorgen können und wäre damit nach dem verpatzten
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