Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)
den Garten lief, bei jedem Wetter, um für ihn Regenwasser zu holen, weil er schwor, normales Leitungswasser wäre zu hart und würde das Aroma des Tees verderben. Sie hat immer gelächelt dabei und im Sommer schnitt sie für ihn oft noch eine frische Rose. Als ich in die Pubertät kam, fand ich das schrecklich peinlich, diese Liebesbekundungen im Nachthemd. Aber sie, die sonst immer so sehr darauf bedacht war, einen guten Eindruck zu machen und bloß nirgends anzuecken, ließ in diesem Punkt nicht mit sich reden.
Sie hatten sich geliebt, meine Großeltern, das stand außer Frage. Auch ich konnte mich an die morgendlichen Gartenspaziergänge meiner Großmutter noch erinnern und so wie sie miteinander agierten, wirkten sie immer wie eine Einheit. Aber sie hatten Amalie verschwiegen. Und meine Mutter schickten sie als Fünfzehnjährige mit einem winzigen Rucksack über die Grenze. Diese Stille meiner Mutter manchmal. Diese Traurigkeit. Vielleicht war das Sehnsucht gewesen, Sehnsucht nach Liebe.
Einmal hatte ich sie angesehen, während mein Großvater uns Kindern vorlas. Sie saß etwas abseits, auf ihrem Gesicht flackerten die Schatten der Kerzen.
»Mama, was ist denn, warum bist du so traurig, du weinst ja?«
»Aber Ricki, nein, ich weine doch nicht. Und wenn, dann nur, weil es so schön ist, wenn Opa vorliest.«
Meine Mutter, Dorothea, die zehnte Tochter, nicht die neunte. Im Krieg gezeugt, hineingeboren in Hunger und Kälte und die nächste Diktatur. Vielleicht hatten meine Großeltern am Ende des Kriegs einfach keine Kraft mehr gehabt, um die älteste Tochter zu trauern und die jüngste zu lieben. Vermutlich hatten sie überhaupt nicht genug Kraft gehabt, all ihren Kindern gleichermaßen gerecht zu werden. Sie hatten sie durch den Krieg gebracht und den Nationalsozialismus überstanden. Den Einmarsch der Russen. Das allein war schon eine gigantische Leistung.
Ich räumte auf. Ich entrümpelte. Ich packte Kiste um Kiste. Ich kündigte Konten, das Abonnement für die Tageszeitung, Versicherungen. Meine Mutter hatte so viel Zeit darauf verwendet, ihre Möbel und Besitztümer zu pflegen, ja möglichst makellos zu erhalten, wie neu. Sie gab sich so viel Mühe damit, dass ihre Lebensqualität darunter litt. Nie, niemals durfte man ein Glas auf einem Tisch abstellen, ohne zuvor einen Untersetzer, ein Platzset oder eine Tischdecke aufzulegen. Jeden benutzten Topf, jeden Rührlöffel musste man sofort spülen, selbst wenn der Besuch so lange allein im Wohnzimmer wartete. Und nun wollten weder Alex noch ich ihre wohlbehüteten Möbel behalten. Auch ihre sorgfältig gebügelten Blusen und Hosen und Jacken nicht. Die Tischwäsche und die blank gewienerten Vasen und Blumenübertöpfe, ihre Katzenfigürchen aus Ton und Porzellan, ihre Lampen, Teppiche, Kissen. Ihren Fernseher und die Nähmaschine, mit der sie uns früher Mäntel genäht hatte: rot für mich, blau für die Jungen.
Sie besaß kaum Bücher und nur wenige CDs, nicht einmal nostalgische Schallplatten von früher. Wie hatte sie ihre Zeit verbracht, womit? In einer Schublade im Schlafzimmer fand ich zahlreiche Wollknäuel, Strick- und Häkelnadeln, aber nirgendwo einen selbst gestrickten Pullover. All diese Tage und Nächte, die sich zu Wochen addierten und schließlich zu Jahren. Manchmal hatte sie den Telefondienst des Katzenschutzvereins übernommen und neue Bewerber begutachtet, die einen Pflegeplatz anboten. Oder sie verteilte am Kudamm Flugblätter, die dazu aufriefen, für das Wohl heimatloser Katzen zu spenden. Eine Zeit lang hatte sie im Chor ihrer Kirchengemeinde gesungen und dann wieder damit aufgehört, ohne das zu begründen. Hin und wieder bekam sie Besuch von einem ihrer Brüder oder einer Schwester. Einmal im Jahr wohnte Alex für eine Woche bei ihr, ab und zu kam ich für einen Nachmittag oder Abend, wenn ich mal in Berlin war.
Alles in Ordnung hier, ich komme schon klar.
Vielleicht hatte sie manchmal die Fotoalben aus ihrer Kindheit betrachtet und nach und nach all jene Bilder daraus entfernt, die dem Ideal, das sie von ihrem Leben überliefern wollte, nicht entsprachen: Mein Großvater in SA-Uniform. Sellin. Ihre Schwester Amalie. Vielleicht hatte aber auch jemand anderes das schon getan, bevor sie diese Alben überhaupt zu sehen bekam. Ihre Mutter oder ihr Vater oder die älteren Geschwister. Vielleicht hatte sie von der Existenz ihrer großen Schwester Amalie nie etwas erfahren.
Ich hatte seit jener Nacht in der Kellerbar nicht mehr Klavier
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