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Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)

Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)

Titel: Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisa Klönne
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Examen an der Musikhochschule eventuell noch für einen zweiten Versuch zugelassen worden. Das war normalerweise nicht möglich, aber alle wussten von Ivos Tod, sie hätten wohl eine Ausnahme für mich gemacht. Aber ich hatte geahnt, dass ich auch bei einer Wiederholung gescheitert wäre, dass mir nach Ivos Tod der Biss fehlte, vielleicht auch der Glaube an mich, und obwohl die Prüfer mir ihr Bedauern aussprachen, blieb ich für sie doch nur eines von vielen Talenten, das sie schnell wieder vergaßen, weil es für die große Solistenlaufbahn eben nicht reichte.
    Wenn du auslöschst Sinn und Klang, was hörst du dann?
Ich wusste es nicht, jetzt noch viel weniger als damals. Februar war es schon, Ende Februar. Irgendwie waren eineinhalb Monate vergangen und die Tage wurden allmählich länger, nur in den dunkelsten Nischen der Stadt klumpten noch graue Eisbrocken.
    »Wusstest du, dass Krabben im Larvenstadium bereits über einen ausgeprägten Hörsinn verfügen?«, fragte Alex.
    »Krabbenlarven? Wie kommst du denn jetzt darauf?«
    »Ich dachte, das würde dich interessieren. Sie können hören. Im Ernst. Es ist wirklich unglaublich. Neuseeländische Kollegen haben das herausgefunden.«
    »Aha.«
    »Die Larven durchleben mehrere Entwicklungsstadien und driften in dieser Zeit frei im Meer. Aber im letzten, dem Megalopa-Stadium, müssen sie küstennah auf dem Boden andocken.«
    »Und bevor sie das tun, hören sie sich erst mal ein bisschen um.«
    »Ja, genau. Die Kollegen haben Versuchsreihen mit mehreren Krabbenarten gemacht, indem sie sie in Aquarien mit verschiedenen Geräuschen beschallten.«
    »Was haben die Forscher den Krabben denn vorgespielt? Punkrock? Mozart?«
    Alex stieß ein Geräusch aus, das vielleicht ein Lachen war. Jedes Mal schlug er vor, dass wir künftig über Skype telefonieren sollten, aber ich hatte noch immer nicht die Software dazu auf meinem Laptop installiert. Am anderen Ende der Leitung klapperte etwas, ich glaubte die Stimme einer Frau zu hören. Vielleicht war das diese Freundin, Deirdre, von der er neuerdings redete. Eine Biologin natürlich, die beiden arbeiteten zusammen. Nie, niemals zuvor hatte ich Alex mit einer Freundin erlebt. Früher hatten Ivo und ich manchmal spekuliert, ob er überhaupt jemals sexuelle Bedürfnisse hatte oder vielleicht insgeheim schwul war und sein Coming-out vor sich herschob. Selbstbefruchtend oder völlig verklemmt, hatte Ivo gelästert. Aber eigentlich wussten wir gar nichts und wenn wir Alex über sein Privatleben auszufragen versuchten, verdrehte er nur die Augen. Ich stellte mir vor, wie die beiden braun gebrannt auf einer Terrasse saßen, mit Blick auf den Ozean, und bedauerte plötzlich, dass ich mich noch nicht um die Möglichkeit, mit Bild zu telefonieren, gekümmert hatte. Allein um einen Blick auf seine Freundin zu werfen, hätte sich das gelohnt, denn ich war keinesfalls davon überzeugt, dass sie tatsächlich existierte.
    »Natürlich nicht Mozart, Rixa.«
    »Sondern?«
    »Das Geräusch des Meeres, also so, wie es unter Wasser klingt.«
    »Aus Perspektive der Krabben und Fische.«
    »Wenn die Brandung auf ein Korallenriff trifft, klingt das anders als auf Sand oder über einer sehr tiefen, felsigen Uferregion.«
    »Die Krabben erkennen ihre Heimat also am Klang.«
    »Ja, genau, so könnte man das ausdrücken. Also jedenfalls helfen ihnen die akustischen Informationen dabei, den für ihre Art am besten geeigneten Lebensraum zu finden.«
    Ich stand auf und ging in die Küche. Nacht, schon wieder Nacht. Das Brummen des Kühlschranks, das bläuliche Fernsehlicht der Nachbarn, Othello auf meinen Fersen, ein lautloser, pelziger Schatten. Er folgte mir neuerdings durch die Wohnung und reagierte nicht mehr bei jedem Geräusch, das ich verursachte, als wollte ich ihn erschlagen. Ich durfte ihn zwar noch immer nicht anfassen, aber manchmal, nachts, saßen wir beide auf der Fensterbank im Wohnzimmer und blickten einträchtig aus dem Fenster, obwohl es dort außer der sacht schaukelnden Straßenlaterne und schlafenden Mietshäusern nichts zu sehen gab.
    Heimat – hatte meine Mutter sich hier zu Hause gefühlt, oder früher in Köln oder noch früher in Sellin? War es diese Sehnsucht nach Zugehörigkeit, die sie zurück nach Mecklenburg geführt hatte, wie mein Onkel Richard behauptete? Bei den Menschen war es jedenfalls nicht anders als bei den Krabben, das Gehör eines Embryos ist viel früher entwickelt als die anderen Sinnesorgane.
    Ich verstaute den

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