Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)
Bilderrahmen mit der gestickten Pfarrhausleitlinie und zwei weiße Damasttischdecken in derselben Kiste, in der bereits die beiden Ölporträts meiner Großeltern steckten. Allmählich machte ich doch Fortschritte, und es wurde eng, Kartons stapelten sich an den Wänden und mitten im Wohnzimmer. Ich sah mich um. Wenn ich das Sofa ganz nach vorn ans Fenster schöbe, hätte ich einen weiteren Meter Stauraum an der Wand gewonnen. Ich stemmte mich mit der Hüfte dagegen, das Handy mit Alex’ Stimme, die noch immer Details der Krabbenexperimente erläuterte, weiter am Ohr.
Die Couch war schwer, ließ sich auf dem Teppich nur mühsam bewegen, rutschte dann aber doch. Spinnweben klebten an der Wand dahinter, eine verstaubte Steckdose kam in Sicht, dann, etwa auf Höhe meines Oberschenkels, ein in die Tapete geritztes Quadrat.
»Alex!«
»Was?«
»Ich glaub, ich hab gerade diesen Safe gefunden, den wir die ganze Zeit suchen!«
Ich holte den Schlüsselbund meiner Mutter aus dem Flur und kniete mich vor dem Safe auf den Boden.
»Sei bloß vorsichtig, nicht dass der Schlüssel wieder abbricht.«
»Ich geb mir Mühe, ja. Er passt jedenfalls.«
Ein Wandtresor hinter der Sofalehne, wahrscheinlich gehörte er zur Wohnungsausstattung. Was würde sich darin verbergen? Der Abschiedsbrief, den wir suchten? Ein geheimes Vermögen? Schmuck? Irgendeine Erklärung? Der Schlüssel ließ sich tatsächlich drehen, langsam, Millimeter um Millimeter. Ich hielt den Atem an, als ein leises Knacken mir verriet, dass sich die Verriegelung löste.
»Und? Was?«, fragte Alex.
Ich öffnete die Tür. Sie war nicht groß, etwa dreißig mal dreißig Zentimeter, für ein großes Vermögen war dieses Fach nicht konzipiert worden.
»Ein Briefumschlag und ein Tuch. Warte, in dem Tuch ist etwas verpackt, etwas Hartes.«
Ich zog es heraus, auch den Brief, trug beides zum Esstisch unter die Lampe. Das, was unserer Mutter kostbar gewesen war, die Essenz, war es das, diese beiden Dinge? Der Briefumschlag war vergilbt und mit Seidenpapier gefüttert. Er trug keine Aufschrift, keine Nachricht verbarg sich darin, nur das Schwarz-Weiß-Foto einer jungen Frau in einem altmodischen Kleid und eine hellbraune Locke. In dem Tuch steckte ein silberner zweiarmiger Kerzenhalter, kunstvoll ziseliert mit feinstem Blattwerk. Auf seinem Fuß saßen zwei lächelnde Putten, es sah aus, als schlenkerten sie mit den Beinchen.
Ich drehte das Foto herum. Fand keinen Namen darauf, kein Datum, nur die gelblichen Reste eines Klebstoffs, die darauf hinwiesen, dass es wohl einmal in ein Album sortiert worden war, bis irgendjemand es herausgerissen hatte.
»Amalie, das muss Amalie sein! Mama hat ein Foto von ihr im Safe versteckt. Und außerdem diesen Silberleuchter, von dem Onkel Richard bei der Beerdigung erzählt hat. Der, den Oma ihr für die Flucht in den Westen mitgegeben hat, du weißt schon.«
Ein Foto ihrer Schwester. Eine hellbraune Locke, um die ein Band weißer Spitzenlitze geknotet war. Ich beugte mich tiefer über das Foto. Ein angedeutetes Lächeln zum Fotografen, ein offener Blick, das Haar ein straffer Knoten.
»Sie war hübsch, Alex. Bildhübsch.«
»Und auf wen kommt sie? Hat sie das Retzlaff-Kinn oder ist sie eher eine Bundschuh?«
»Ich weiß nicht. Sie sieht ganz eigen aus. Ihr Gesicht hat so etwas Weiches, aber sie wirkt trotzdem so, als sei sie keineswegs schüchtern.«
»Wie alt?«
»Schwer zu sagen. Erwachsen, mindestens zwanzig, eher etwas älter.«
»Das hieße, sie hat noch gelebt, als der Krieg zu Ende war.«
»Sie könnte auch Mitte zwanzig sein, dann wäre dieses Foto 1950 entstanden, in dem Jahr, in dem sie Sellin verlassen haben.«
Ich lehnte das Foto an den Fuß des silbernen Leuchters, strich mit der Fingerspitze über die seidige Locke.
»Diese Locke hat genau dieselbe Farbe wie meine Haare, Alex.«
»Pinkviolett?«
»Quatschkopf! So wie von Natur aus.«
»Und was ist noch drauf auf dem Foto?«
»Ich weiß nicht. Eine Wand. Hell. Ich glaub, das ist draußen aufgenommen worden.«
»Scan das Foto ein und mail es mir, ja? Mit einem Bildbearbeitungsprogramm kann man sicher noch mehr rausholen.«
»Ich versuch’s, ja.«
»Und sonst ist nichts in dem Safe, wirklich gar nichts?«
»Du sagst es.«
»Also letztendlich ein weiteres Rätsel.«
»Und da wir dabei sind: Unser Brief an Ann Millner kam gestern wieder hier an. Nicht zustellbar, weil die Empfängerin unbekannt verzogen ist, wenn ich den Stempel der amerikanischen Post
Weitere Kostenlose Bücher