Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)
richtig interpretiere.«
»Und jetzt?«
»Keine Ahnung.«
Ich versuchte mir meine Mutter als Fünfzehnjährige vorzustellen, mit dem Rucksack auf den Schultern, in dem sie diesen Engelleuchter transportierte, im Gefolge eines Schleusers, der sie zu Fuß in den Westen lotste. Hatte sie auch dieses Foto mit eingesteckt, heimlich vielleicht? War Amalie der Grund, dass sie sich ohne Bedauern von ihrem Elternhaus abwandte? Und was hatte es mit diesem Kerzenhalter auf sich, warum verbarg sie ihn mit dem Foto im Safe? Er war das Geschenk einer Gutsherrin an meine Großmutter gewesen, weil die beiden befreundet gewesen waren, hatte Richard gesagt. Meine Großmutter hatte an ihm gehangen, ihn vor den Russen versteckt und dann an ihre jüngste Tochter weitergegeben.
Wir sprachen noch eine Weile an diesem Abend, entwickelten Theorien und verwarfen sie wieder, und sobald wir uns verabschiedet hatten, fiepte mein Handy aufs Neue. Ich sah aufs Display. Lorenz. Mein erster Impuls war, ihn wegzudrücken, dann entschied ich mich anders.
»Ich komme nach Berlin, schon in drei Tagen«, sagte er. »Mit deinem Koffer. Können wir uns sehen?«
Elise, 1934
Heute, gleich. In nur wenigen Stunden! Das Gras schmiegt sich feucht an ihre Fußsohlen, Tau blitzt auf den Halmen, winzige Perlen. Ein hoher Tag, Hochsommer. Die aufgehende Sonne lasiert den Himmel in Zartviolett. Elise verharrt einen Moment reglos, schaut und seufzt. Sie muss wirklich bald einmal wieder ein Stündchen Zeit abzwacken, um zu aquarellieren, auch wenn die Kinder sich längst nicht so für das Basteln und Malen begeistern, wie sie es sich einst gewünscht hatte. Aber nicht heute, denn heute fahren sie nach Boltenhagen. Ein freier Tag, ein Festtag, der erste seit Langem. Lore, das neue Dienstmädchen, wird die Kinder hüten, damit sie und Theodor Zeit haben, ungestört mit Hermann zu reden. Endlich, nach all diesen schrecklichen, stummen Jahren weilt er wieder einmal zur Kur an der Ostsee. Sie werden Tee trinken und sich aussprechen. Sie werden in der Ostsee baden und am Abend ein Kurkonzert hören und danach lädt Hermann sie allesamt zum Essen in sein Hotel ein, auch die Kinder. Eine Geste der Versöhnung ist das, heute, an seinem Geburtstag. Er will diesen albernen Zwist über die Politik beilegen, der ihn und Theodor einander so entfremdet hat, deshalb ist er gekommen, ganz sicher. Sie sind schließlich Christen, Pfarrer, im Glauben geeint, es war völlig unnötig, nein, es war Unrecht, dass sie so stritten.
Der gute Hermann, ihr lieber Großcousin. Wie es ihm wohl ergangen ist und wie er aussieht? Elise taucht den Teekessel in die Regentonne. Noch ist das Wasser darin kühl und frisch, aber wenn es mit diesem Sommer so weitergeht –. Sie blickt hoch in den Himmel. Nicht ein einziges Wölkchen ist dort zu sehen, nur ein paar Schwalben jagen einander. Irgendwo trällert auch eine Amsel ihr Balzlied, und in den Haselnusssträuchern am Ende des Gartens krakeelen die Meisen. Elise wässert die Tomatenstauden und schneidet verwelkte Blütenstände von den Rosen. Eine heilige Zeit ist das, diese Stunde am Morgen, wenn alle noch schlafen. Sie pflückt eine Handvoll Himbeeren und lässt die winzigen Perlen am Gaumen zerspringen, ihre überbordende Süße. Die ersten Tomaten sind auch schon reif; und sie braucht noch zwei Sträuße. Sie sieht sich um. Dunkelrote Rosen, Rittersporn und ein paar Gräser für den Altar der Kapelle in Boltenhagen, und für Hermann ebenfalls Rittersporn. Nicht zu viel, nicht zu üppig, das würde nicht passen, nur eine einzige der tiefblauen, samtigen Rispen und dazu ein paar filigrane weiße Cosmea. Und noch ein Zweig Himbeere dazu? Ja, warum nicht. Das ist zwar sehr unkonventionell, aber das hellgrüne Laub macht sich apart in der Vase, genau wie die stachligen Stängel. Nur noch wenige Stunden! Sie wird das neue, roséfarbene Leinenkleid mit den Stickereien anziehen. Sie hat für Hermann auch noch ein hübsch illustriertes Bändchen mit Psalmen erstanden, und nach einigen Kämpfen hat Amalie schließlich doch ein annehmbares Bild zustande gebracht. Elise streicht sich eine Haarsträhne aus der Stirn. Bestimmt ist es Unrecht, sich auf ein paar Stunden reiner Vergnügungen so sehr zu freuen, Hochmut kommt vor dem Fall, aber sie kann es nicht ändern, nicht jetzt, nicht heute.
Stunden des Glücks sind das, eine fliegende Zeit. Die Kinder klatschen in die Hände und rufen Oh und Ah, als sie alle mit ihren sieben Sachen im Leiterwagen sitzen
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