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Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)

Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)

Titel: Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisa Klönne
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und in Richtung Ostsee losholpern.
    »Los, wir singen!« Amalie stimmt ein glasklares
Hoch auf dem Gelben Wagen
an und als nächstes den Kanon
Jetzt fahren wir über’n See
, auch Richard und Theodor fallen ein, dann die Kleinen und sie. Ihre Familie, ihr Leben. Der strenge Geruch der Kutschpferde mischt sich mit dem des Staubs und des Dungs auf den Feldern, die Hufe klappern, und nun kommt bereits die Ostsee in Sicht, dieser Überfluss an blauer Weite. In sanften Schwüngen wellt sich die Chaussee zu ihr hinab. Selbst die Kopfweiden an den Feldrändern wirken in der Mittagssonne nicht mehr so melancholisch, und ihr Laub schimmert silbrig.
    »Selig sind, die Gottes Wort hören und bewahren. Lukas 11,28«
    Elise lächelt, als ihr Blick auf die vertraute Inschrift über dem Eingang des Kirchleins fällt. Immer noch ist es ein wenig befremdend, dass vor dem schönen Jugendstilkurhaus von Boltenhagen und entlang der Promenade die signalroten Hakenkreuzfahnen wehen. Aber hier, auf der Anhöhe und in der Kapelle, ist alles beim Alten. Sie zieht die Tür hinter sich zu, fühlt, wie sie augenblicklich Licht und Stille umfangen, fast wie eine Liebkosung. Die anderen sind schon voraus an den Strand gegangen, ganz unverhofft hat sie so noch eine zweite Stunde für sich allein geschenkt bekommen. Der Geruch von Bienenwachs steigt ihr in die Nase. Sie schließt einen Moment lang die Augen. Immer kommt es ihr so vor, als sei sie Gott gerade hier in der kleinen Paulskapelle besonders nah, viel näher als in der stolzen Kirche von Klütz. Vielleicht liegt es am Licht, überlegt sie und blinzelt. Die Hauptfenster schimmern wie Perlmuttmuscheln und darüber blinken die bunten Rosetten wie verzauberte Kaleidoskope.
    Ein einzelner Mann sitzt in der letzten Bank, sein kahler Schädel ruht auf seinen zum Gebet gefalteten Händen. Auch Elise spricht einen stummen Dank, bevor sie so leise wie möglich zum Steinaltar läuft, ein frisches Damasttuch auflegt und die Blumen in der blauen Tonvase arrangiert. Sie hat richtig gewählt, diese Vase ist wirklich perfekt für den Rittersporn und die Rosen. Sie poliert den Kerzenhalter, kürzt den Docht und nickt befriedigt. Nun ist alles bereit für Theodors Predigt am nächsten Morgen.
    »Wie schön, Elise, wie wunderschön. Ich sehe, du hast deine Kunstfertigkeit nicht verloren.«
    Ein Mann sagt das. Hermann! Sie wirbelt herum, läuft, fällt ihm in die Arme.
    »Ich habe gar nicht gehört, wie du hereingekommen bist!«
    »Ich war schon hier, ich saß hinten in der Ecke.«
    Der kahlköpfige Beter – das war er! Dann hat er ihr also zugesehen, ohne sich zu erkennen zu geben. Sie spürt, dass sie errötet, sucht nach Worten.
    »Du bist dünn geworden, Hermann, und –« Sie beißt sich auf die Lippen. Und dein Haar hast du verloren, wollte sie sagen, nur ein schütterer, grauer Kranz ist davon geblieben, aber das weiß er ja selbst, sie will ihn doch nicht verletzen.
    »Und du bist so jung und schön wie eh und je.«
    »Aber nein, Unsinn, ich –«
    »Ich habe immer noch zwei Augen im Kopf, liebe Großcousine!«
    Er bietet ihr den Arm, zieht sie mit sich hinaus in den strahlenden Nachmittag. »Ich habe gehofft, dass ich nicht noch länger im Teepavillon auf euch warten muss.«
    »Aber wir waren doch erst in einer Stunde verabredet …«
    »Keine Sorge, ich war zu früh, deshalb habe ich beschlossen, hier noch ein wenig Einkehr zu halten.« Er lacht. »Komm, gehen wir ein Stück und nutzen die Zeit. Es gibt so viel zu erzählen.«
    Sie biegen auf die Promenade zur Seebrücke ein, bahnen sich ihren Weg zwischen Spaziergängern, Matrosen und Händlern, die Scholle, Hering und Räuchermakrele feilbieten, vorbei am Kurhaus mit den roten Fahnen und den reetgedeckten Fischerkaten.
    »Ich war Ende Mai in Barmen, Elise. Ich war dabei!«
    »Barmen?«
    »Barmen, ja. Bei Wuppertal. Wir Christenmenschen können wieder hoffen. Wir sind viel mehr als gedacht, die sich diesen Wahnsinnigen widersetzen, die das Alte Testament verbieten und Adolf Hitler wie einen zweiten Gott inthronisieren wollen.«
    »Aber Hermann, was redest du da, unsere Bibel ist heilig, die will doch niemand verändern.«
    »Oh doch, Elise, es gibt gar nicht so wenige Männer, die sich Christen nennen und das ernsthaft erwägen. Unsere fünf Bücher Moses sind schließlich auch der Juden heiligste Schrift, die Thora.«
    »Aber deshalb kann man doch unsere Bibel nicht – das kann doch niemand ernsthaft beabsichtigen.«
    »Doch, Elise, so weit ist

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