Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)
der Pracht, das ist immerhin etwas. Elise blickt von ihrer Suppe auf, als markerschütterndes Gebrüll die vornehme Atmosphäre zerreißt. Ein Mädchen ist der Verursacher, ein seltsam verwachsenes Äffchen mit viel zu großem Schädel und krummen Beinchen. Strampelt und tobt und geifert, wälzt sich gar auf dem Boden.
Niemand isst jetzt mehr, alle Gespräche verenden, alle starren.
»Aber Melinda, bitte, beruhige dich, niemand tut dir hier etwas, versprochen!« Die Sprecherin ist die silberne Meerjungfrau vom Strand, die wohl unglaublicherweise die Mutter des Zwergmädchens ist und noch ein weiteres Krüppelkerlchen an der anderen Hand hält.
»Gnädige Frau, bedaure, aber wir sind ausreserviert.« Der Oberkellner wuselt zu ihr heran und dienert. Eine Art Raunen weht durch die Menge der Gäste, nein, ein Zischeln.
»Ich habe auch bei Ihnen reserviert. Einen Tisch für drei Personen.« Die Meerjungfrau richtet sich auf und reicht dem Kellner eine Karte. Das Zwergenkind zu ihren Füßen zieht sich an ihrem Seidenkleid hoch und verstummt. Aus seinem Mäulchen tropft Speichel. Der Kellner hebt die Augenbrauen, schüttelt den Kopf.
»Tut mir leid, gnädige Frau, das war wohl ein Missverständnis. Es geht nicht, nicht heute, absolut nicht.«
»Aber hier sind doch noch freie Tische, und wir brauchen etwas zu essen, vor allem meine Kinder.«
Sie muss aus der Stadt kommen, denkt Elise. Sie ist es gewohnt, die Blicke auf sich zu ziehen und mit Personal umzugehen. Aber nun ist sie trotzdem verunsichert. Nun stößt sie trotzdem an ihre Grenzen.
Das Zischeln wird lauter, wie der Flügelschlag von Hornissen. Die Frau steht regungslos und sehr gerade. Sie hat Angst, denkt Elise, das sieht man in ihren Augen. Aber sie fürchtet nicht um sich selbst, sondern um ihre Kinder. Elise blickt zu Theodor, der starr auf seinen Teller sieht. Etwas in ihrer Brust krampft sich zusammen.
»Sie können bei uns Platz nehmen, gnädige Frau.« Ganz ruhig sagt Hermann das, ganz freundlich, als wäre es selbstverständlich.
Stille. Warten. Ein kollektives Schweigen. Dann, überlaut, das Schaben von Hermanns Stuhl, als er aufsteht, um seine Worte zu bekräftigen. »Wir feiern hier meinen Geburtstag, es wäre mir eine Ehre, und Ihre Kinder vertragen sich sicherlich prächtig mit meinen Neffen und Nichten.«
Die Meerjungfrau zögert, schickt einen abwägenden Blick über Theodor und Elise.
»Nun, wenn das so ist, vielen Dank, sehr gerne.«
Sie ist sehr schlank und sehr hoch gewachsen, fast einen Kopf größer als der gute Hermann. Und sie ist schön, wirklich wunderschön, vor allem, wenn sie lächelt.
»Ich bin Clara von Kattwitz«, sagt sie, als sie ihren Tisch erreicht hat. »Aus Sellin nahe Goldberg. Und diese beiden Rangen hier sind meine Kinder, Melinda und Heinrich.«
15. Rixa
Irgendwann, ich glaube, es war in der zweiten oder dritten Klasse, lernte Ivo im Kunstunterricht Collagen zu erstellen, und danach erfand er ein Spiel, dass er
Zauberbeamer
nannte: Wochenlang fügte er aus alten Zeitschriften, zerfledderten Kinderbüchern und eigenen Bildern Landschaften und Szenerien zusammen, und in jede fügte er etwas ein, das nicht passte: einen Fisch in die Wüste, ein Klavier in den Urwald, einen Plätzchen backenden Astronauten in eine Küche. Ich hatte lange nicht mehr an dieses Spiel gedacht, aber jetzt, beim Anblick von Lorenz in Berlin, auf der Straße vor meiner Wohnung, fiel es mir wieder ein.
Er lächelte mich an, wirkte auf eine Art befangen, die ich nicht von ihm kannte, was mein Gefühl, dass er nicht hierher passte, noch verstärkte. Ich streckte die Hand nach meinem Koffer aus, den er nicht auf den Boden gestellt hatte, sondern mit beiden Händen festhielt.
»Danke, dass du den gebracht hast, aber ich hätte ihn wirklich auch in deinem Hotel abgeholt.«
»Ich trag ihn dir hoch, der ist höllisch schwer.«
»Nicht nötig.«
Neben uns parkte mein Transit, der voll bis unters Dach mit Kisten und Hausrat war. Ich öffnete die Seitentür, auf der man, wenn man sich anstrengte, noch die Telefonnummer entziffern konnte, unter der man mich einmal als Barpianistin hatte buchen können.
»Du verreist?« Lorenz hievte den Koffer hinein.
»Ich ziehe um.«
»Oh.«
»Raus aufs Land.«
Er sah mich an, schien zu erwarten, dass ich ihm etwas erklärte. Vom Beifahrersitz aus wallte eine weitere Kaskade von Othellos Protestgeheul durch den Wagen. Über eine Stunde hatte ich benötigt, um den Kater in die Transportbox zu locken.
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