Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)
der Teetasse grinste ein Smiley, irgendwer hatte sie mir mal geschenkt. Ich warf sie zu den Teebeuteln in den Abfall. So viel Ballast, der sich ansammelte, selbst wenn man nirgendwo wirklich zu Hause war. Hatte meine Großmutter das auch so empfunden? Wahrscheinlich nicht. In dem Sommer, in dem sie das Haus in Poserin aufgeben mussten, um nach Zietenhagen zu Onkel Markus zu ziehen, hatte sie um jedes einzelne Taschentuch, jedes noch so rissige Schüsselchen, jedes sorgfältig geglättete Butterbrotpapier wie eine Löwin gekämpft. Erst nachts, oder wenn sie und ihr Theodor sich erschöpft zu einem Mittagsschlaf zurückgezogen hatten, konnten ihre Kinder tatsächlich packen und aussortieren. Sie entfachten dann auch ein Feuer im Garten, um alte Briefe und all die Papierchen und leeren Schachteln zu vernichten, die meine Großmutter hartnäckig hortete, weil sie ja eventuell noch einmal nützlich sein könnten. Aber manchmal stand meine Großmutter doch wieder auf, als ahnte sie, welche Vernichtungsmaschinerie in ihrem Garten in Gang gesetzt worden war, und dann kämpften meine Mutter und Tante Elisabeth und die winzige klapprige Elise stumm und verbissen um jede einzelne Schachtel und um jeden Papierschnipsel.
Was hatten sie damals noch alles ins Feuer geworfen? Das NSDAP-Parteibuch meines Großvaters? Fotos von ihm und seinen SA-Kameraden? Fotos von Amalie? Oder hatten meine Großeltern das schon längst selbst erledigt? Und meine Mutter? Hatte auch sie ihre Besitztümer längst von all dem bereinigt, was nicht in die Biografie passte, die sie uns und der Welt zur Erinnerung hinterlassen wollte, und war es nicht sogar ihr Recht, ihre Geheimnisse zu behalten? Ich versuchte mir vorzustellen, wie es gewesen wäre, wenn sie eines Tages zu alt gewesen wäre, noch allein in ihrer Wohnung zu leben. Hätten sie und ich dann auch so miteinander gerungen wie sie und Oma Elise? Wahrscheinlich. Aber nun war sie nicht mehr da, und ein professioneller Entsorger ersparte mir, ihrer Tochter und Erbin, sogar die Anwesenheit bei der Wohnungsauflösung, wenn auch nicht mein schlechtes Gewissen, weil mir nichts von dem, was ihr so wichtig gewesen war, wirklich etwas bedeutete.
»Die Barpianistin auf der MS Aurora ist nicht gerade toll, Rixa. Ich könnte dich empfehlen, dann wärst du zumindest schon mal an Bord, und wir beide könnten … Und wer weiß, was dann …«
»Die Antwort heißt nein.«
»Und was willst du jetzt machen?«
»Keine Ahnung. Mal sehen.«
»Ich bin nur wochenweise auf der Aurora gebucht, werde also immer mal wieder in Deutschland sein, Rixa.«
»Und wo?«
»Ich dachte an Hamburg.«
Mein Gesicht in der Kuhle seines Schlüsselbeinknochens. Sein Geruch. Seine Wärme. Paul Horn im Taj Mahal, der der Stille der Gewölbe zuhört. Lorenz am Saxofon, ganz versunken, mit geschlossenen Augen. Vielleicht war ich wahnsinnig, mich von ihm zu trennen. Vielleicht, nein bestimmt. Und trotzdem konnte ich nicht anders, wusste, dass das richtig war, der einzige Weg. Ich konnte es nur nicht begründen.
Ich war unsicher gewesen, ob ich nach der langen Pause noch mit dem Transit und dem Verkehr zurechtkommen würde, doch sobald ich ein paar Kilometer gefahren war, fühlte sich alles wieder vertraut an. Das größte Problem war, aus Berlin herauszufinden, denn ich hatte statt in ein Navigationsgerät lieber in einen MP3-Anschluss für die Stereoanlage investiert. Van Halen,
Jump
, aus einem Impuls heraus entschied ich mich dafür, doch Othellos Gejammer machte diese Pläne zunichte.
»Es ist gut für dich dort, wo wir hinfahren. Besser als in einer Stadtwohnung, versprochen.«
Der Kater fixierte mich aus gelben Augen und heulte noch lauter.
Ich schaltete die Musik wieder aus, in meinem Kopf sangen Van Halen dennoch weiter.
I get up and nothing gets me down, you got it tough, I’ve seen the toughest around …
Musik, die ich eine Zeit lang als Teenager gehört hatte, zu der ich getanzt hatte, mitgegrölt, die Fäuste in den Himmel geschlagen. Und obwohl das Jahre, nein Jahrzehnte her war, kannte irgendein mysteriöser Teil meines Hirns diesen Song immer noch auswendig, Strophe für Strophe, jedes Wort, jeden Ton.
Jump, jump, might as well jump.
Ich hatte mich so unschlagbar gefühlt damals. Unverwundbar. So stark. Wie als Kind auf der Schaukel unter unserem Walnussbaum.
Ich fand endlich die Zufahrt zur richtigen Autobahn und gab Gas. Früher, immer früher, warum kam ich nicht davon los? Auch der Transit war ein Relikt aus
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