Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)
einem eigentlich vergangen geglaubten Leben. Ich hatte den Namen gemocht, als ich ihn damals kaufte. Transit, Übergang, ein Zustand dazwischen, der Freiheit versprach. Bevor ich auf Schiffen anheuerte, war ich mit dem Transit zu Hotelengagements getingelt. Zwar stand mir als Barpianistin dort ein Zimmer mit Frühstück zu, aber ich schlief sehr viel lieber in meinem Bus, weit weg vom Hotel an einem See oder Fluss, an deren Ufern ich die Sommertage bis zum nächsten Auftritt vertrödelte. Ich versuchte immer Plätze zu finden, wo ich allein war. Saß nachts mit Wein unter Sternen oder im Bus im Regen, sprang morgens als Erstes ins Wasser, so wie meine Großeltern und wir alle es früher in Poserin getan hatten. Kein einziges Familientreffen zwischen April und Oktober verging jemals, ohne dass wir alle zusammen schwammen. Die Frauen hielten die Köpfe angestrengt über Wasser, um die Frisuren nicht zu beschädigen, die Männer tauchten beherzt unter, wir Kinder planschten und jauchzten. Vielleicht war es letztendlich das, was Verwandtschaft ausmachte: Man tat etwas und hielt es für eine eigene Entscheidung, ja freien Willen, dabei folgte man in Wirklichkeit seiner genetischen Programmierung.
Kein Schnee lag mehr auf den Feldern, nachdem Berlin hinter mir zurückgeblieben war. Kein Schnee, aber auch noch kein Grün. Eine Ahnung von Frühling, dennoch. In den Ackerfurchen schwamm das Anthrazitgrau des Himmels. Raum. Weite. Die Versprechung einer köstlichen Leere, in der so viel möglich erschien, so viel mehr als in Köln, so hatte ich das bei unseren Familienreisen nach Mecklenburg immer empfunden. Wenn wir im Sommer im Gras gelegen hatten, waren wir uns alle einig gewesen, dass die Wolken nur hier in Mecklenburg so aussahen, so flach an der Unterseite und zuckerwatteweich. So schnell dahinziehend, dass sich die Farben des Sees beständig veränderten. Es musste auch ein Geräusch dazu gegeben haben. Das Rascheln des Schilfs. Die Stimmen von Vögeln. Doch wie genau das geklungen hatte, konnte ich nicht mehr sagen, vielleicht wegen Van Halen, die noch immer in meinem Kopf sangen, und auch Othello tobte unvermindert weiter, erst als ich schon auf die Landstraße abfuhr, gab er Ruhe und rollte sich zusammen, ein verkrampftes Bündel.
Wieder der Wald, wie ein Tunnel, dann das verfallene Gutshaus, danach die Allee knorriger Stämme zum Dorf hinab. Hatte die Gutsherrin, deren silbernen Kerzenhalter meine Mutter in ihrem Tresor verwahrt hatte, einst hier in dieser Brandruine gelebt? Jemand in Sellin würde das wahrscheinlich wissen und mir sagen können, wenn wohl auch nicht, was das für meine Familie bedeutete. Ich fuhr weiter, im Schritttempo, mehr ließ die Straße nicht zu. Sellin. Landkreis Güstrow. Die Katen entlang der Hauptstraße, die zugleich die Durchgangsstraße war, sahen mehr denn je aus, als zögen sie die Köpfe ein, vor welcher Gefahr auch immer. Der Transit geriet in ein badewannengroßes Schlagloch, schlingerte wieder hinaus. Die Straße war unbefestigt, mehr Kies und Schlamm denn Asphalt, nun, da der Schnee geschmolzen war, offenbarte sich das. Als ob die Zeit stehen geblieben und die Wende nie geschehen wäre. Nur dass keine blank polierten Trabis mehr in den Garagen parkten und keine Honecker-Porträts die Behörden zierten. Oder doch? Vor einem Haus mit rostigem Zaun türmte sich Sperrmüll, obenauf lag ein sehr verspäteter, kahler Christbaum.
Der Konsum des Dorfs war noch immer verlassen. Ich bremste und schaltete den Motor ab. Irgendwo schlug ein Hund an. Othello duckte sich tiefer und grollte. NAILS. MAKE-UP. Monis Elektrowerbung blinkte unbekümmert ihr wahnwitziges Stakkato in den grauen Mittag. Das Dorf meiner Familie im dritten Jahrtausend. Ich musste verrückt sein, von allen Geistern verlassen, Berlin dafür aufzugeben und mein Leben auf der Marina.
»Ich habe Apfelkuchen gebacken«, eröffnete mir Moni, als ich ihre Beauty-Oase betrat.
»Das ist nett, aber ich wollte eigentlich nur die Schlüssel abholen und Ihre Auslagen bezahlen.«
»Du, wir sagen doch du, wir sind doch im selben Alter.« Sie lächelte, hielt meine Hand so fest wie ein Ringer. »Kaffee ist auch fix gemacht – oder trinkst du lieber Tee?«
Der Preis für die Nachbarschaftshilfe – Kommunikation. »Kaffee ist prima.«
Ich ließ mich von Moni an der Ladentheke und allerlei Behandlungstischen und einer Massageliege vorbei zu einer Tür führen, die sich hinter einem mit Kirschblüten übersäten Bambusparavent
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