Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)
Stofflöwe. Ich wandte mich ab. Unter dem Spülstein fand ich Eimer und Besen. Ich fegte die Glasscherben zusammen und schleppte weitere Kisten und Koffer aus dem Transit ins Haus. Morgen oder übermorgen würden die Männer, die inzwischen vermutlich schon mit der Wohnung meiner Mutter fertig wären und zu meiner eigenen aufbrachen, mir ein paar weitere Kisten und Möbel nach Sellin bringen, die nicht in den Transit gepasst hatten: meine Matratze, mein Sofa, meinen Tisch und den Küchenschrank. Ich könnte Wände streichen und Lampen anbringen und das tun, was ich über ein Jahrzehnt lang vermieden hatte: ankommen. Heimisch werden. Bleiben.
Ich trank ein Glas Leitungswasser, füllte einen Napf für Othello und einen weiteren mit Futter, entließ ihn endlich aus seinem Gefängnis. Wie der Blitz schoss er unter das Feldbett.
»Es ist okay, wirklich. Dein neues Zuhause.«
Stille. Warten. Dem Tag draußen vor den Fenstern ging schon wieder die Kraft aus. Ich unternahm einen Rundgang durchs Haus, sehr langsam, sehr bewusst, inspizierte Zimmer um Zimmer, Dachboden und Keller. Keine Botschaft für mich, nirgends. Kein geheimnisvoller Koffer mit Familienannalen oder einem Tagebuch, das endlich alles erklärte. Aber Moni hatte recht, die Vorbesitzerin, Ann Millner, hatte tatsächlich einiges investiert. Nicht nur die Fenster, auch die Dielenböden waren neu, staubmatte Eiche, auch die Heizung und die Elektroinstallationen wirkten modern, und die Bäder genauso. Doch die Wände waren unbehandelt, roh, und im Handwaschbecken und in der Duschtasse klebten Mörtelreste. Sie hatte es ernst gemeint mit diesem Haus, Ms Ann Millner aus New York, aber dann war irgendetwas geschehen und sie hatte es für 110 000 Euro an meine Mutter verkauft und dabei vermutlich noch Verlust gemacht. Was hatte sie dazu bewogen?
Ich ging wieder ins Verandazimmer und trat ans Fenster. Ich versuchte mir meine Mutter hier vorzustellen, als Kind und als Erwachsene. Ich dachte an meine Großeltern und meinen Patenonkel Richard und an Amalie. Hatte sie hier auch einmal so gestanden wie ich jetzt und zugesehen, wie der Wind Wasser und Schilf zauste? Hatte sie sich dabei wie eine Gefangene gefühlt, eingesperrt, gefesselt, von wem oder was auch immer?
Der Nöck sitzt im Schilf, Kind, und spielt auf seiner Flöte aus Rohr, und manchmal, ganz selten, kann man das hören. Aber man muss gut auf sich aufpassen, wenn man ein Menschlein ist, denn der Nöck meint es zwar gut, doch er kann dich betören und mit seiner Flöte ins Wasser locken, ganz tief hinab auf den Grund des Sees, zu den Wassergeistern und Nixen, und dann bist du verloren.
Wieder ein Windstoß, trieb das Wasser in silbrigen Schuppen ans Ufer. Ich wollte das sehen, hören, schmecken, augenblicklich, sofort.
Kälte hüllte mich ein, als ich nach draußen trat. Erst in diesem Moment wurde mir bewusst, dass das Pfarrhaus tatsächlich geheizt war. Lichtgrauer Nebel hing in der Luft und legte sich auf meine Haut, mikroskopische Eissplitter, so kam mir das vor. Ich schob die Hände in die Jackentaschen und ging ums Haus herum auf die Veranda, dann hinunter zum See. Wispern. Zischeln. Vereinzeltes Glucksen. Irgendwo im Schilf fror eine jüngere Rixa auf einem Steg und weinte um ein verpatztes Weihnachtskonzert. Irgendwo unter Wasser tauchten Ivo, Alex und ich wie Geister. Der Kahn war morsch, lag halb unter Wasser, jetzt, aus der Nähe, erkannte ich das. Doch der Steg, der am Bootsschuppen entlang hinaus aufs Wasser führte, war vor nicht allzu langer Zeit erneuert worden, und der Schuppen selbst mit einem soliden Schloss gesichert.
Der dritte Schlüssel vom Schlüsselbund meiner Mutter! Mein Atem ging keuchend, als ich ihn von drinnen geholt hatte, ins Schloss steckte, aufschloss. Wut, kalte Wut, trieb mich wieder auf den Steg, weil sich im Bootsschuppen eine Sauna verbarg, ausgerechnet eine Sauna.
Meine Mutter war, obwohl – oder, wie sie selbst manchmal sagte, gerade weil – sie Pfarrerstochter war, keine Kirchgängerin gewesen. Auch Tisch- und Nachtgebete sprach sie mit uns Kindern nur, solange wir klein waren. Doch in ihren Ansichten, was für ein gutes Leben vonnöten war und was überzogener Luxus, war sie dennoch durch und durch protestantisch. Völlerei war verwerflich. Den Teller nicht leer essen oder etwas wegschmeißen, einfach nur, weil man dessen überdrüssig geworden war, streng verboten. Disziplin war vonnöten, die höchste Tugend, harte Arbeit niemals ein Anlass zum Klagen, denn
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