Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)
Widerworte gegeben. Fort, immer nur fort wollte sie. Und nun würde sie so viel dafür geben, noch einmal für ein Dämmerstündchen im Arm der Mutter auf dem Biedermeiersofa in der guten Stube zu lehnen. Und wie gern würde sie noch einmal den Atem der Mutter in ihrem Haar spüren, ihre Hand, die die ihre hält und mit ihren Fingern spielt, jeden einzelnen liebkost und begutachtet und mit einem kleinen Kuss wieder in die Freiheit entlässt.
»Zwei Zwiebeln für den Salat?« Die Augen der Schwiegermutter huschen prüfend über den Tisch. »Das ist zu viel, eine halbe rühren wir unter den Quark und dazu noch ein Schuss Milch und ein wenig Salz, dann schmeckt man kaum noch, dass der Quark schon vergoren ist.«
»Eine gute Idee, ja, so machen wir es.«
Warum ist ihre Mutter so früh gestorben? Sie sollte doch zu ihnen nach Klütz ziehen, es war alles vorbereitet, und dann holt sie der Schlag, nicht einmal Zeit für ein Abschiedswort ist ihnen geblieben.
»Du musst mit Theodor reden, Elise, auf ihn einwirken, das ist deine Pflicht. Er muss sich von seinen Parteifreunden distanzieren.«
»Aber die Petermanns sind doch unsere Freunde, und ich – wie soll ich das denn tun? Ich verstehe doch nichts von der Politik, und das Kirchsteuergeld ist wirklich wichtig für die Gemeinde. Theodor leistet so viel, das Gemeindeblatt wird sehr gut angenommen. Endlich, nach vier Jahren Aufbauarbeit, erreichen wir auch die Gemeindeglieder, die der Kirche schon abgeschworen hatten, und die Jugendarbeit und der Chor –«
»Trotzdem, Elise.«
Die rechte Hand der Schwiegermutter versetzt dem Boden des Bohnenglases einen geübten Klaps, das Einweckgummi gibt seinen Widerstand auf, öffnet sich mit einem leisen Schmatzen.
»Gieß mal ab!«
Elise nimmt das Glas, nickt, fühlt, wie sich ihr Magen schmerzhaft zusammenzieht, als sie das Essigwasser einatmet.
Oh, nein, bitte nicht – nicht so kurz nach Markus, nicht schon wieder.
»Ist dir nicht gut?«
»Nein, nein, alles in Ordnung.« Elise wendet sich ab und tritt an den Spülstein. »Ich bin nur manchmal müde.«
»Die Kinder, ich weiß, das zehrt an den Kräften.« Ganz sanft sagt die Schwiegermutter das, beinahe zärtlich.
»Markus weint so viel, ja.«
Man kann etwas tun, hat Clara gesagt. Jedenfalls früher konnte man das, früher, vor ’33. Man kann sogar dafür sorgen, dass man gar nicht erst schwanger wird. Clara, die liebe Clara, was sie alles weiß und schon erlebt hat. Wie schön wäre es, sie könnten sich öfter sehen, nicht nur ein paar Wochen im Sommer an der Ostsee.
Elise hält den Atem an und gießt das Bohnenwasser ab. Sie darf nicht so undankbar sein, das ist Frevel. Theodor liebt sie noch immer, liebt und begehrt sie, genau wie sie ihn. Und im Gegensatz zu der armen Clara haben sie lauter blitzgesunde Kinder. Sie sind wer in Klütz und führen ein offenes Haus. Sie müssen sich und ihre Kinder nirgendwo verstecken.
Gemeinsam decken sie den Tisch, gemeinsam setzen sie sich und falten die Hände, während Theodors Vater eine kurze Andacht spricht. Hand in Hand wünschen sie sich eine gesegnete Mahlzeit, alle miteinander, ihre Familie. Und die Kinder sind artig an diesem Abend, und sie essen manierlich, selbst Richard schluckt brav alle Zwiebeln und wagt nicht, in der Gegenwart seines Großvaters zu mäkeln. Und natürlich reden die Männer noch immer über Politik.
Der Essiggeruch der Bohnen kriecht ihr mit jedem Bissen erneut in die Nase. Vierunddreißig ist sie jetzt. Noch ein halbes Jahr und sie ist fünfunddreißig, geht unweigerlich auf die vierzig zu. Schon jetzt beginnt ihre Haut zu altern, schuppt sich und juckt, egal wie oft sie sie eincremt, genau wie früher die ihrer Mutter. Wie alt war die, als sie ihre einzige Tochter Elise zur Welt brachte? Alt, sehr alt, schon siebenunddreißig, und der Vater noch älter. Hat sie auch das geerbt, diese späte Fruchtbarkeit, und wann wird das aufhören? So viele Bilder hat sie ihrer Mutter früher gemalt, um ihr ihre Liebe zu zeigen. Bilder, immer Bilder. Aber Bilder waren nicht das, was die Eltern sich von ihr wünschten, und sie – zur Strafe, dass sie das nicht einsehen wollte, selbst bei ihrer Hochzeit noch nicht – hat nun ihrerseits Kinder bekommen, die ihr keine Bilder zeichnen oder tuschen, jedenfalls nicht freiwillig und mit der gebührenden Sorgfalt und Liebe.
Das Telefon klingelt, schrill. Reißt Elise aus ihren Gedanken, lässt alle verstummen.
»Wer kann das denn sein, so spät am
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