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Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)

Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)

Titel: Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisa Klönne
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hat sie sich gemacht, wenn es ihr gelang, sich hineinzuschleichen, und ihr schlechtes Gewissen schrumpfte dank all der Köstlichkeiten, die sie stibitzte und ganz schnell in den Mund schob und auf der Zunge zergehen ließ, mit geschlossenen Augen. Und manchmal, nicht immer, tat die Mutter so, als ob sie sie nicht bemerkte, und ließ sie gewähren.
    Elise öffnet den Vorratsschrank. Eine Schale gekochte Kartoffeln hat sie noch, drei hart gekochte Eier. Wenn sie ein Glas eingemachte Bohnen opfert und zwei Zwiebeln dazu schneidet, wird daraus ein Salat. Und Quark ist noch da, nur ein klein bisschen sauer, das reicht für die Kinder als Brotaufstrich, und für die Schwiegereltern und Theodor hat sie ein Stück Käse. Nicht gerade üppig, aber sie hatten ja zu Mittag die Mettenden mit Kraut, und wenn sie die Kartoffeln nicht braten muss, spart sie den letzten kostbaren Rest Butter. Sie hebt den Keramikdeckel an, stippt mit dem Zeigefinger behutsam in den goldgelben Klumpen, leckt den Finger ab. Wie hat dieser Herr Minister Goebbels zum Jahresanfang verkün-
det? Ohne Butter könne man zur Not sehr gut eine Zeit lang auskommen, nicht jedoch ohne Kanonen? Wenn er wüsste, wie schwer das tatsächlich ist, würde er anders sprechen, ganz gewiss. Elise schließt die Fliegengittertür wieder, lässt ihre Stirn einen Augenblick lang dagegen sinken, wie früher an die Fenster zur Straße in Leipzig, glaubt wie ein fernes Echo die Stimme ihrer Mutter zu hören, lauthals geschimpft hätte die über solchen Unsinn.
Der Reichspropagandaminister soll nur immer herkommen und sich an unserem Esstisch eine dieser armseligen Nachkriegs-Butterrationen mit der Briefwaage abwiegen lassen. Er soll ruhig einmal eine Woche lang ausprobieren, wie ihm das Essen so munden würde, dann sprechen wir weiter.
Mutter, ach Mutter, würdest du doch noch leben.
    »Nun, liebe Elise, wie ist dir zu helfen?«
    Elise zuckt zusammen, verbirgt den Butterfinger instinktiv in ihrer Schürze.
    »Die Männer reden und reden und kommen nicht weiter. War es nun recht, dass ein Teil der Bekennenden Kirche sich im Februar zu einer gewissen Kooperation mit der Partei bereit erklärt hat, oder nicht?« Die Schwiegermutter nimmt Elise die Schüssel mit den Kartoffeln aus der Hand und stellt sie auf den Arbeitstisch, langt mit routiniertem Griff nach einer Schürze.
    »Einen anderen Grund kann niemand legen, außer dem, der gelegt ist, welcher ist Jesus Christus«, zitiert Elise. »Theodor sagt, dass gerade dieser Spruch aus dem Korinther zur Jahreslosung erklärt wurde, ist ein Grund zur Hoffnung.«
    Die Schwiegermutter schnaubt. »Martin Niemöller hält das für ein reines Lippenbekenntnis.«
    »Aber so steht es in der Bibel.« Elise gibt eine Handvoll Kamillenblüten in die Teekanne, die sie im Sommer gemeinsam mit Clara gepflückt hat, nur sie beide, allein, ohne die Kinder, mitten in duftenden Wiesen. Sie haben gelacht und gesungen und sich Geheimnisse anvertraut. Dass Clara eigentlich aus einem Gut an der Ostsee in Ostpreußen stammte. Dass sie der Musik wegen nach Berlin kam und sich dort unsterblich in ihren Franz verliebte, wie sie gefeiert haben und getanzt und gedacht, das ginge ewig so weiter. Aber dann kamen die Kinder und sie mussten Berlin verlassen. Als sie das erzählte, hatte Clara nicht mehr gelacht, ganz dunkel waren ihre schönen grauen Augen da auf einmal, wie Kiesel, die man ins Wasser wirft.
Es ging nicht dort mit den Kindern, wirklich nicht, Elise, nicht so, wie sie nun einmal geboren sind. Zuerst habe ich noch gehofft, es wäre nicht für immer. Aber jetzt –. Du weißt ja gar nicht, wie es in Berlin heutzutage zugeht. Das ist nicht mehr die Stadt, die sie einmal gewesen ist, da stehen heute alle in Reihe, alle schön gleich, spätestens seit diesem Sommer, wegen Olympia.
    Die Hände der Schwiegermutter haben Messer und Schneidbrett gefunden, ganz selbstverständlich führen sie Regie, so wie in jenem Sommer vor Elises Hochzeit, als die Schwiegermutter sie anlernte, weil Elise noch gar nichts verstand und überhaupt nichts konnte. Doch das scheint eine Ewigkeit her zu sein. Inzwischen hat sie sechs Kinder geboren, und alle Gäste rühmen sie für ihre Hauswirtschaftskünste, nur Theos Mutter scheint das nicht zu bemerken. Elise holt die Bohnen aus dem Keller und eine Salatschüssel aus der Anrichte. Handlangerdienste, genau wie in jenem Sommer in Plau, genau wie früher in Leipzig. Wie hat sie die Mutter damals gehasst, hat geschludert und

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