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Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)

Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)

Titel: Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisa Klönne
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wer rastet, der rostet. Und nun hatte sie uns ein Haus mit Sauna vermacht. Dabei rangierten Stunden oder gar ganze Tage, die man schwitzend und dösend mit Nichtstun verbrachte und dabei auch noch Unmengen Strom, Wasser und Handtücher verbrauchte, in ihrem Wertesystem in etwa auf derselben Stufe wie der Besuch eines zwielichtigen Nachtklubs.
    Na, so haben wir uns gleich noch das Duschen gespart, Kinder!
Jedes Mal sagte das jemand, wenn die Retzlaffs nach einem gemeinsamen Familienbad im See aus dem Wasser kletterten und sich die Gänsehaut mit Handtüchern abrubbelten, die im Laufe der Jahre bleich und fadenscheinig geworden waren und natürlich viel zu klein, um darauf zu liegen oder sich darin einzuwickeln. Und ich weiß noch, wie viel Missbilligung wir Jüngeren ernteten, als wir mit vierzehn oder fünfzehn, spätestens mit sechzehn, darauf bestanden, nach dem Schwimmen trotzdem noch richtig zu duschen: mit Shampoo und warmem Wasser, genau wie zu Hause jeden Morgen oder Abend, obwohl meine Mutter auch das überflüssig fand, jedenfalls im Winter.
    Und nun hatte sie von einer Amerikanerin, die sie vermutlich als überkandidelt bezeichnet hatte, ein Haus mit Fußbodenheizung und Sauna gekauft, von welchem Geld auch immer. Warum? Was hatte sie dazu bewogen? Und warum hatte sie dieses Haus dann nicht eingerichtet oder benutzt, sondern sich schließlich mit besoffenem Kopf zu Tode gefahren, sich und zwei weitere unschuldige Menschen?
    Die Dunkelheit kam jetzt schnell, ich holte meine Taschenlampe aus dem Transit, um auf dem Friedhof überhaupt noch etwas zu erkennen. Es war nicht die beste Tageszeit für dieses Vorhaben, ganz sicher nicht. Aus den Wiesen stieg der Nebel in dichten Schwaden, erschwerte mir die Sicht, sog sich in mein Haar und in meine Kleidung. Doch ich wollte nicht warten, ich wollte Klarheit. Wut trieb mich an und noch etwas, das Schmerz in sich barg, eine wilde, unbestimmte Sehnsucht.
    Ich ging systematisch vor, arbeitete mich vom Hauptportal in konzentrischen Kreisen um die Kirche herum allmählich nach außen zur Feldsteinmauer vor. Sehnsucht, warum Sehnsucht? Wonach? Ich hätte den Rat meiner Mutter gebraucht, gestand ich mir endlich ein. Nicht nur jetzt, auch schon früher. War es denn nicht das, wofür die Älteren da waren? Um Erfahrungen weiterzugeben, Trost, Hoffnung, nicht Bürden.
    Ein paar wenige Grabmale waren neu, ihre Steinkreuze blank poliert mit goldenen Lettern. Andere waren aus rohem Feldstein gemeißelt und älter, doch noch immer gepflegt, die Namen der hier ruhenden Verstorbenen leicht zu entziffern. Wieder andere waren schon lange verlassen, ihre Toten vergessen, eine Beute der Witterung und Vergänglichkeit, von Flechten und Moosen.
    …ON KATTWITZ. Ganz am äußersten Rand des Friedhofs auf einem gewaltigen Granitfindling fand der Lichtkegel meiner Lampe die Reste des Namens, den Moni vorhin erwähnt hatte. Die Besitzer des Gutshauses. Warum waren sie hier begraben und nicht in einer Gruft im Park ihres Anwesens? Vielleicht wegen der Russen und der Enteignung.
    Ich trat näher heran, kratzte eisgraue Flechten vom Stein, glaubte schwach eine Jahreszahl zu erkennen, 1945, aber keinen Vornamen, kein Kreuz, keine Inschrift.
    1945. Wen hatte mein Großvater hier beerdigt, warum? Oder lag hier gar niemand, war das nur ein Gedenkstein? Ich schickte den Lichtstrahl weiter auf die Reise, untersuchte auch die letzten Steine, blieb stehen. Es gab auf diesem Friedhof kein Grabmal einer Amalie Retzlaff, sie war nicht hier.

Elise, 1936
    Die Stimmen aus der guten Stube verwischen zu einem gedämpften Gemurmel, sobald sie die Tür hinter sich ins Schloss zieht, die Zugluft des Flurs streicht ihr wie eine Eiskatze um die Knöchel. Elise tappt auf Zehenspitzen zur Treppe, hält den Atem an, lauscht. Nichts, kein Laut mehr, dem Himmel sei Dank. Markus hat sich müde geweint, gibt endlich Ruhe. Sie schleicht weiter zur Küche, schürt die Glut im Herd und gibt frisches Holz dazu, füllt den Teekessel auf. Die Schwiegereltern wollen nun doch noch zum Abendbrot bleiben, reden sich drüben mit Theodor wieder einmal die Köpfe heiß über die Politik und die Pflichten der Christenmenschen in diesen Tagen. Zwei weitere Esser, damit war nicht zu rechnen. Was soll sie auf den Tisch bringen? Gerade Theos Mutter ist doch immer kritisch.
    Es ist dämmrig und kühl in der Speisekammer, und aus dem Fliegengitterschrank strömen Wohlgerüche, schon als Kind hat sie das ganz besonders geliebt. Winzig klein

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