Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)
Sonntagabend?«
»Ich gehe schon.«
Elise springt auf, sie weiß selbst nicht, warum. Etwas treibt sie hoch und hinüber ins Amtszimmer, schnell, voller Erwartung. Angst ist das, registriert sie, als sie vor dem schwarzen Bakkelitapparat angekommen ist und Luft holt. Normalerweise überlässt sie Theodor die Beantwortung des Telefons, denn meist sind es ja seine Kameraden, die anrufen, oder jemand aus der Gemeinde, aber nicht heute, nicht jetzt, dieser Anruf ist anders, das weiß sie, noch bevor sie den Hörer ans Ohr presst und nach einigem Knacken und Rauschen Hermanns Stimme hört.
Letzten Montag. Am 9. November 1936. Sie starrt auf dieses Datum in Theodors Wochenkalender, der aufgeschlagen auf dem Schreibtisch liegt, während Hermann auf sie einredet. Sie hält sich daran fest, und zum ersten Mal denkt sie, dass es vielleicht gut ist, dass ihre Mutter nicht mehr lebt, dass sie das nicht verkraften muss, nicht mehr erleben.
»Was ist, Liebes, was?« Theodor springt auf, als Elise – sie weiß nicht, wie viel später – wieder ins Esszimmer tritt. Sie weiß nur, dass die Tafel mit ihrer Familie zu schwanken beginnt, wegkippen will, fühlt den Arm ihres Mannes um sich, dann einen Stuhl unter ihren Schenkeln.
»Sie haben das Denkmal entfernt.« Ihre Stimme scheint von weither zu kommen, der Tisch schwankt noch immer. »Felix Mendelssohn Bartholdy, die Statue mit den Engeln, vor dem Gewandhaus. Weil er undeutsch sei, hat Hermann gesagt. Ein Jude. Eine Schande. Dabei war er doch protestantisch getauft und er war doch der erste Kapellmeister des Gewandhauses und –«
Sie bricht ab, schluchzt auf, will noch mehr sagen, kann nicht, hört wie durch Nebel Amalies Geschrei, ganz verzerrt vor Empörung, oder ist das Verzweiflung?
»Aber das dürfen sie nicht tun, das ist doch ein Unrecht! Du hast gesagt, Musik kann niemals böse sein, Papa! Du hast das geschworen!«
16. Rixa
Schwärze, die sich auf meine Mutter senkt, undurchdringliche Schwärze, die alles auflöst, für immer. Meine ins Leere greifenden Hände, mein verzweifeltes Sehnen, mein rasendes Herz, diese Angst, die mich weckt, oder ist es mein Schrei? Ich riss die Augen auf, blinzelte, versuchte mich zu orientieren. Meine Kehle war trocken, die Zunge wie Reispapier an meinem Gaumen. Hatte ich wirklich geschrien oder das nur geträumt? Wo überhaupt war ich und was war das für ein Lied, das mir durch den Kopf spukte?
Das Haus. Sellin. Eine weitere Nacht, in der mich dieser Kinderalbtraum aus dem Schlaf riss. Ich erkannte die Konturen der Stehlampe, die ich neben meine Matratze gestellt hatte, tastete nach dem Lichtschalter, fühlte Othellos Gewicht auf meinen Füßen. Das war neu, offenbar hatte er nach den letzten Tagen und Nächten, die er mehr oder weniger unter dem Feldbett in der Küche verbracht hatte, beschlossen, mir zu verzeihen.
Das Lied, dieses Lied. Ich versuchte, die Melodie zu rekonstruieren, sie zu summen, fühlte im gleichen Moment, wie sie mir weiter entglitt, dünner wurde, beliebiger, nicht mehr zu greifen. Ich schloss die Augen wieder, bewegte die Finger auf der Bettdecke. Vielleicht, wenn ich ein Klavier hätte, könnte ich dieses Lied spielen, es festhalten, in die Wirklichkeit überführen. Ich hatte es nie zuvor gehört. Oder doch? Details aus dem Traum fielen mir wieder ein, überhaupt schien dieser Albtraum hier in Sellin plastischer zu werden, fast lebendig, als ob er an Kraft gewönne. Meine Haut auf weißen Laken. Die Haut meiner Mutter, kalt, milchig, bläulich. Jemand schreit. Das Geräusch von Schritten. Stiefel auf Kies, rhythmisch. Knirschend. Soldaten, die marschieren.
Woher kam dieser Traum, der seit meiner Kindheit durch meine Nächte spukte? Es ging nicht um mich, das konnte nicht sein. Als ich zur Welt kam, gab es keine Soldaten, jedenfalls nicht in der Klinik in Köln, und meine Mutter war damals auch nicht gestorben.
Vielleicht war dieser Traum gar nicht meiner, sondern quälte mich nur. Gab es so etwas, geerbte Träume, der Spuk eines Hauses? Hatte ich mir diesen Traum während jenes Sommerausflugs mit Mutter und Großmutter in der Selliner Kirche eingefangen wie ein böses Virus? Tagsüber erschien mir das absurd, dann verblasste der Traum, doch nachts, wenn er mich aus dem Schlaf riss, schien alles möglich, dann war seine Macht ungebrochen, machte ihn zu der einzigen Wirklichkeit, die etwas zählte.
Ich stand auf und ging in die Küche, füllte ein Glas mit Leitungswasser, trank es im Stehen, an die
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