Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)
Spüle gelehnt, füllte es noch einmal und trug es ins Verandazimmer. Othello schlich hinter mir, ein zaghafter Schatten. Der Geruch frischer Wandfarbe hüllte mich ein, die Stille.
Eine Woche war ich jetzt hier. Ich hatte Umzugskisten in Empfang genommen und dann doch nicht ausgepackt. Ich war stundenlang durchs Haus und um den See gelaufen. Ich hatte in einem Baumarkt bei Güstrow Wandfarbe gekauft und die ersten Zimmer gestrichen. Ich hatte Richard angerufen. Dann Elisabeth. Dann Theodor junior. Dann Markus. Dann wieder Richard.
»Lass die Vergangenheit ruhen, Rixa. Sie ist nicht mehr zu ändern.«
»Aber es gibt nicht einmal einen Grabstein für Amalie, warum?«
»Weil sie nicht in Sellin beerdigt wurde.«
»Und wo dann?«
Schweigen, nur Schweigen.
»Meine Mutter ist tot. Ich bin hier in Sellin. Ich will das jetzt wissen! Wo ist Amalies Grab? Wann ist sie überhaupt gestorben? Warum?«
»Sie kam nach Berlin, wegen der Russen.«
»Und deshalb habt ihr nicht einmal um sie getrauert, sie niemals erwähnt und sie nicht beerdigt?«
»Sie war krank, Rixa, krank, ihr war nicht mehr zu helfen.«
»Aber was ist geschehen?«
»Frag nicht, Rixa, frag nicht. Das ist zu schmerzlich.«
Regen fiel draußen, gleichmäßig, dicht. Ein sanftes Strömen, ganz anders als die monsunartigen Niederschläge in den Tropen, die mir aus den letzten Jahren vertraut waren. Ich trat ans Fenster, fühlte das Haus in meinem Rücken und über mir. Zu viel Platz, zu viele Zimmer, zu viel ungewohnte Leere nach den Sechs-Quadratmeter-Kokon-Jahren auf der Marina.
Das Haus meiner Vorfahren. Heimat. Aber Heimat war ein Wort, das ich in meinem Leben kaum je verwendet, ja nicht einmal gedacht hatte. Mecklenburg sagten wir. Oder drüben. Oder DDR. Und später, als wir nicht mehr nach Poserin fuhren, sondern nach Zietenhagen zu Onkel Markus: Wir fahren an die Ostsee. Aber unsere Großeltern hatten von Heimat gesprochen, immer. Und auch von der deutsch-deutschen Wiedervereinigung, als wäre diese etwas, das uns – unserem Volk – tatsächlich zustünde. Selbst Alex, Ivo und ich, die wir im Gegensatz zu den meisten Jugendlichen unserer Generation durch unsere Besuchsreisen wussten, dass die Menschen jenseits der Ostgrenze ebenfalls deutsch waren, ganz ähnlich wie wir, mit ähnlichen Träumen und derselben Sprache und Geschichte, hatten diese ewige Sehnsucht nach dem Fall der Mauer als etwas Rückständiges, Reaktionäres, ja geradezu Obszönes empfunden. Eine konservative Utopie, der dank Hitler ein für alle Mal die Berechtigung fehlte. Wir kannten ja kein vereinigtes Deutschland mehr und kein Deutsches Reich – nur aus unseren Geschichtsbüchern.
Ich suchte erneut nach der Melodie aus dem Traum, tastete nach Tönen und tappte versuchsweise Rhythmen auf die Dielen.
Die Stare sind Betrüger, die imitieren nur die Lieder der anderen, weil sie keine eigenen kennen.
Ich stand wieder still, blickte in den Garten. Dort wo der See liegen musste, kroch ein grünliches Grau in den Nachthimmel. Rechts der Veranda witterten zwei dunkle Schemen. Rehe.
Einmal hatte mein Vater mich überraschen wollen und für sich und seine neue, hochschwangere Frau eine Kreuzfahrtwoche auf dem Schiff gebucht, auf dem ich damals angeheuert hatte. Er war der Einzige unserer Familie, der mich je dort besuchte. Komm bloß nicht in die Bar, hatte ich gesagt. Lass mich hier in Ruhe. Aber obwohl er sich daran hielt, verspielte ich mich in dieser Woche dennoch, jeden Abend, so oft wie sonst nie.
Ich dachte an die Krabben, von denen Alex mir erzählt hatte. Stellte mir vor, wie sie durch die Weltmeere trieben, bis sie den Klang ihrer Heimatregion erkannten. Ich dachte an uns als Kinder in Mecklenburg. Wir hatten das nie so formuliert, und doch waren unsere Mecklenburgferien immer wie ein Heimkommen gewesen, obwohl wir nie hier gelebt hatten. Vielleicht gab es das ja, ein unbewusstes, instinktives Wiedererkennen, determiniert durch Familienzugehörigkeit, vererbbar.
Ein menschlicher Fötus lernt die Stimme seiner Mutter und den Klang des Ortes, in den er Monate später hineingeboren wird, bereits kennen, wenn er als blindes Würmchen im Fruchtwasser driftet. Das Hören ist der erste und wichtigste Sinn, auch wenn das in unserer auf Bilder fixierten Welt niemand wahrhaben will. In der römischen Gesellschaft verloren Ertaubte die Bürgerrechte, Blinde hingegen nicht. Natürlich sei das Nicht-Hören-Können eine sehr viel gravierendere Beeinträchtigung als das
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