Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)
Nicht-Sehen, hatte auch die blind-taub-stumm geborene Helen Keller einmal gesagt. Ein Bild, eine Skulptur, ein Gesicht kann man sich ertasten, nicht jedoch ein Konzert von Mozart.
Ich schloss die Augen, stand reglos, wartete, horchte. Das Geräusch des Regens wurde intensiver. Schlieren, die übers Glas krochen, Rinnsale, das Glucksen in den Dachrinnen. Etwas knarrte im Haus, etwas rauschte. Verhalten, gedämpft, wahrscheinlich die Heizung.
Hatte Amalie hier je so gestanden, mit der Stirn an der Fensterscheibe und geschlossenen Augen? Und meine Mutter als Kind? Und wenn ja, wie hatten das Haus und der Regen damals geklungen, genau so? Nein sicher nicht. Es gab Kachelöfen damals, keine Fußbodenheizung, sondern einfach verglaste Fenster, Möbel in den Zimmern, bestimmt auch Teppiche und Gardinen, nicht lauter leere, unbewohnte Zimmer.
Ich öffnete die Augen wieder. Das Grüngrau über dem See schien intensiver geworden zu sein, die Rehe waren verschwunden, falls ich sie mir nicht nur eingebildet hatte. Amalie war 1949 gestorben, das hatte Richard nach zähem Ringen schließlich doch preisgegeben. Da war sie knapp fünfundzwanzig gewesen und meine Mutter vier. Geboren in Poserin, aufgewachsen in Klütz, gestorben – wahrscheinlich – in Berlin. Weil sie krank war, wegen der Russen, hatte er gesagt. Was genau hieß das? Dass sie vergewaltigt worden war? Und wenn es so gewesen war, was bedeutete das für meine Mutter?
Ich holte mir noch ein Glas Wasser aus der Küche, kroch damit wieder auf meine Matratze. Die älteste Tochter. Die große Schwester. Amalie musste meine neu geborene Mutter in den Armen gehalten haben, sie gewiegt haben, gewindelt, gebadet, gefüttert. Sie musste mit ihr gespielt haben in den ersten Lebensjahren meiner Mutter. Und bestimmt hatte sie sie auch aufs Klo begleitet, so wie meine Mutter mich, wenn wir in Poserin zu Besuch gewesen waren. Denn viele Jahre lang gab es dort noch kein Wasserklosett, sondern nur ein Brett mit einem Holzdeckel, unter dem sich ein beängstigend großes, kreisrundes Loch befand, das erbärmlich stank, auch wenn unsere Großeltern den darunter befindlichen Holzkasten regelmäßig im Garten entleerten und seinen Inhalt in den Gemüse- und Blumenbeeten vergruben. Bester Dünger, pflegte mein Großvater zu sagen. Und so zipfelte hin und wieder zwischen den Möhren oder Ringelblumen ein Fetzen des Neuen Deutschland hervor, aus dem mein Großvater mit einer riesigen Schere Toilettenpapier zuschnitt, weil es richtiges oft nicht zu kaufen gab. Und überhaupt eigne sich das Verlautbarungsorgan der SED für diese Zwecke ganz hervorragend, schwor er. Gerade weich und saugfähig genug sei das Papier, bereit für alle Arten von Ausscheidungen.
Ich nahm mein Handy, wählte Alex’ Nummer.
»Erzähl mir, wie es war, als ich geboren wurde«, bat ich als er sich meldete.
»Fängst du jetzt wieder mit diesem Sie-ist-nicht-meine-Tochter-Scheiß an, oder was?«
»Darum geht es nicht, nein.«
»Du hast genau dieselben Augen wie sie. Ivo hatte die auch.«
»Was weißt du noch von meiner Geburt, das war die Frage, Alex.«
»Ich war damals vier!«
»Ich weiß. Aber irgendetwas musst du doch noch wissen.«
»Pa ist mit mir essen gegangen, in eine Imbissbude, weil ich da unbedingt rein wollte. Wir haben an Stehtischen gegessen, das fand ich total spannend, und ich durfte mir etwas aussuchen und wählte Pommes mit Ketchup, ohne zu wissen, was das eigentlich war. Sie wurden mir auf einem Pappteller mit einer grünen Plastikgabel auf der Hutablage des Stehtischs serviert, das weiß ich noch genau.«
»Pommes mit Ketchup, und sonst?«
»Ich durfte nicht direkt zu Ma und dir ins Krankenhaus, sondern musste euch durch eine Glasscheibe angucken. Sie saß im Bett mit einem Bündel im Arm, das warst du, und sie lächelte und winkte.«
»Und wie war das für dich?«
»Keine Ahnung.«
Ich trank einen Schluck Wasser. Wartete.
»Ich weiß es echt nicht mehr, Rixa. Aber später, zu Hause, da hast du oft geweint, und das fand ich doof. Nervig. Aber irgendwann war das dann normal, du warst halt da, meine kleine Schwester.«
»Warst du eifersüchtig auf mich?«
»Ich weiß nicht. Nein. Du warst so anders. Nein, stimmt nicht. Ma war so anders mit dir.«
»Wie meinst du das?«
»Jetzt, im Rückblick, würde ich sagen, dass sie zu hart zu dir war. Mich hat sie immer machen lassen, aber du, du musstest brav sein, irgendwie perfekter.«
»Weil ich ein Mädchen war?«
»Ja,
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