Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)
gewesen wie Ivo und ich, aber seit jenem Abend drifteten wir noch viel weiter auseinander, unaufhaltsam wie Treibgut, das in die Macht entgegengesetzter Strömungen gerät.
Ich riss mir die absurden Plateaustiefel von den Füßen, sprang auf und lief ins Schlafzimmer. Ich musste hier raus, und zwar schnell, sonst würde ich so krank werden wie damals in Mecklenburg. Ich suchte in meinem Kleiderschrank nach warmen Sachen und zog schließlich meine schwarze Lederhose über die Strumpfhose, dazu dicke Socken, Laufschuhe und eine Fleecejacke. Im untersten Fach fand ich auch noch Pulswärmer, wollene Beinstulpen und eine violette Häkelstola, die aus meiner Ballettphase vor dem Abi stammten, als ich mit dem Wechsel ins Musicalfach geliebäugelt hatte. Ich stopfte Wäsche zum Wechseln und die Ladegeräte für Handy und iPod in meinen Rucksack, ging wieder in die Küche und suchte in meiner Krimskramsschublade nach dem Wohnungsschlüssel meiner Mutter, den sie mir im September unbedingt hatte geben wollen.
Für alle Fälle, Rixa, man weiß ja nie.
Ein Unfall, hatte im Abschlussbericht zu Ivos Tod gestanden. Vielleicht auch Suizid, das war nicht mehr zu klären. Fest stand nur, dass er betrunken gewesen war. Betrunken und nicht angeschnallt, und es gab keine Bremsspuren auf der Fahrbahn und keinerlei Hinweis auf weitere Beteiligte an diesem Unfall. Womöglich war Ivo also am Steuer eingeschlafen und einfach nie wieder aufgewacht. Vielleicht hatte er Piets Kasten-R4 auch mit Absicht frontal gegen den Brückenpfeiler gefahren. Aber das wollte ich nicht glauben, nicht für eine Sekunde, Ivos Tod war ein Unfall gewesen, ein tragisches Ereignis, das ich hätte verhindern können, wenn ich mit ihm gefahren wäre. Doch dazu war ich nicht bereit gewesen, aus hunderterlei Gründen, die im Nachhinein alle völlig bedeutungslos wurden.
Ich steckte die Wohnungsschlüssel meiner Mutter ein und sah mich in meiner Küche um, schob dann die Kamillenteepackung und eine fast volle Flasche Wodka in meinen Rucksack. Meine Stiefel lagen noch vor dem Sofa, seltsam verdreht und abgeknickt, wie die Füße einer ausgemusterten Marionette. Ich gab ihnen einen Tritt. Einer knallte an die Wand und hinterließ einen hässlichen schwarzen Striemen. Es war mir egal, nein, es tat mir sogar gut. Warum hatte meine Mutter bei meinem letzten Besuch im Herbst darauf bestanden, dass ich ihre Wohnungsschlüssel an mich nehme? Warum hatte sie mir nichts, überhaupt nichts von ihren Autofahrten nach Mecklenburg erzählt? Und warum war Alex mal wieder abgetaucht und ließ mich allein mit der ganzen Scheiße?
Ich musste wissen, ob meine Mutter angeschnallt gewesen war. Ich musste das plötzlich so dringend wissen, dass ich sogar meine Scheu vor der Polizei überwand. Ja, meine Mutter war angegurtet, bestätigte mir der Beamte, nachdem wir uns durch eine schier endlose Liste von Fragen und Formalitäten gekämpft hatten. Ja, er sei sicher, der Gurt selbst sei zwar verbrannt, aber die Metallschließe habe ganz eindeutig noch in der Halterung gesteckt.
Meine Mutter war angeschnallt. Sie war angeschnallt. Angeschnallt. Ich wiederholte das in meinem Kopf, wieder und wieder, im Takt meiner Schritte, während ich die Treppe hinunterlief. Ich hielt mich daran fest, genau wie an der Vorstellung, dass Ivo damals einfach eingeschlafen war.
Elise, 1921
Nicht weinen, Elise, nicht schon wieder weinen! Wie albern sie ist, wie kindisch. Du lernst das nie. Ich mag das schon gar nicht mehr deinem armen Vater erzählen … Elise ballt die Hände zu Fäusten und schlägt sich vor die Stirn. Es tut weh, aber noch nicht genug. Sie schlägt noch einmal zu, nur mit den Knöcheln der Rechten. Fester und präziser diesmal, direkt aufs Jochbein. Ja, so ist es gut, jetzt spürt sie den Schmerz. Sie lässt ihre Hand sinken und betrachtet sich im Spiegel. Die weit aufgerissenen Augen. Die Rötung, die sich auf der Wange abzeichnet. Dumme Gans, dumme Pute, dummes Gör. Warum schaffst du es nicht einmal, einen Apfelkuchen zu backen, ohne dass etwas schiefgeht? Der gute Rum, den der Vater aus seinem Privatvorrat für den Guss spendiert hat – einfach verschüttet. Und dabei gibt die Mutter sich solche Mühe mit dir, hat dir sogar alle Zutaten abgewogen. Undankbar bist du, Elise. Unnütz und verwöhnt. Kannst nicht kochen, kannst nicht backen, träumst immer nur.
Nun kann sie die Tränen nicht länger zurückhalten, aber sie darf doch nicht weinen, nachher kommt Besuch, und sie wollen doch
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