Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)
gehören diese Hügel gar nicht hierher. Genauso wenig wie die Feldsteine, die die Bauern in jedem Frühjahr mühselig von ihren Äckern klauben.«
»Nein?« Ich sah zu ihm auf, schloss meine Hand um das rosa geaderte Granitklümpchen, das er mir reichte.
»Die Eiszeit hat uns diese Steine gebracht, Mädchen. Vor vielen Tausend Jahren. Alles ließ der liebe Gott damals gefrieren, und so schoben sich riesige Eisschollen aus dem hohen Norden über die Ostsee bis in unser Mecklenburg und brachten Geröll und Felsblöcke mit sich. Daraus sind unsere Hügel und Täler entstanden. Endmoränenlandschaft nennt man das in der Geologie.«
Wir schritten bergan, einen sandigen Pfad zwischen Birken hinauf, links und rechts Blumen mit Namen wie aus einem Märchenbuch: Wiesenschaumkraut und Männertreu. Sumpfdotterblume und Wegwarte und die Wilde Möhre, die sich von der Schafgarbe dadurch unterschied, dass, wie mein Großvater mir erklärte, inmitten ihrer Teller aus winzigen weißen Sternchen ein schwarzer Punkt zu erkennen war, wie ein böses Schäfchen in einer Herde. Überfluss war das, ein Überfluss an Farben, Gerüchen und Klängen – das Summen der Insekten, der stetig an- und abschwellende Gesang der Vögel, unsere Schritte im Sand, der Wind in den Blättern –, und die Luft schien so klar, als sei sie gar nicht vorhanden. Und dann, ganz plötzlich, der Blick zurück, nicht mehr auf die Details gerichtet, sondern über das Land schweifend, ein langer Flug über die sanft geschwungenen Wellen, die in allen erdenklichen Grün-, Braun- und Ockertönen schimmerten.
Heimat. Mecklenburg. Damals glaubte ich, mein Großvater spräche von Poserin, von genau diesem Mikrokosmos aus Dorf, Kirche und See, von genau den Feldern und Wäldern, durch die er mit mir wanderte. Aber so konnte er das nicht gemeint haben, schließlich hatte er in seinem Leben zwar Mecklenburg nie lange verlassen, aber doch mehrfach die Pfarrstelle gewechselt, von Poserin nach Klütz, nach Sellin, wieder nach Poserin. Doch darüber sprach er nie, nur über die Natur, immer die Natur. Mit Liebe. Mit Inbrunst. Mit Ehrfurcht. Mit Staunen. Selbst Gott war während unserer Wanderungen nur indirekt anwesend: ein stiller Schöpfer im Hintergrund, gütig und wohlwollend, aber niemals fordernd oder gar verdammend.
Aber Heimat war mehr als Natur. Zur Heimat gehörten die Menschen. Familie. Freunde. Nachbarn. Kollegen. Ein Geflecht aus Beziehungen, Dramen, Enttäuschungen, Abschieden, Sehnsüchten, Allianzen. Zur Heimat gehörte auch ein politisches System. Eine Gesellschaft. Ein Staat. Seine Werte und Grenzen.
Willkommen im Ostzoo
, kein einziges unserer Familientreffen verging, ohne dass das jemand sagte und dabei auf den Devisenumtausch anspielte, den wir vor unserer Einreise in die DDR an der Grenze zu leisten hatten.
Eintritt bezahlen
, hieß das im Familienjargon. 25 Mark pro Kopf und pro Tag. Harte DM für etwas kleinere, labberigere Ostgeldscheine und Aluminiummünzen, auf denen zwar die gleichen Zahlen standen, die aber dennoch nicht gleichwertig waren und uns vorkamen wie Spielgeld. Denn was sollten wir damit kaufen? Mit Glück ein paar Schallplatten oder Bücher, die trotz Zensur interessant waren. Ich konzentrierte mich auf Klassik, denn die Platten der angesagten DDR-Rockbands wurden nur unter der Ladentheke gehandelt. Doch auch Violinkonzerte oder Sinfonien waren nicht immer selbstverständlich zu haben. Nie war es schwieriger, Geld auszugeben, als in der DDR, so kam mir das vor. Postkarten, Briefmarken, Haushaltsgeräte, alles, was halbwegs nützlich war, kostete Pfennigbeträge, das umgetauschte Geld wurde einfach nicht weniger, sodass wir es schließlich bei unseren Verwandten ließen, zusammen mit ein paar Westgeldscheinen, der heimlichen Hauptwährung der DDR, mit der man nicht nur Zigaretten, Schokolade und Kaffee in den Intershops erstehen konnte, sondern auch allerlei Gefälligkeiten von Handwerkern, Ärzten und anderen Mitbürgern, die für die Bewältigung des Alltags unabdingbar waren.
Mecklenburg. Heimat. Der Landstrich, in dem schon der Vater und Urgroßvater meines Großvaters Pfarrer gewesen waren. Sein Land war es, in dem, wie wir von Geburt an lernten, unsere Wurzeln waren, nicht Sachsen, wo meine Großmutter herstammte, oder ihr geliebtes Leipzig, die Stadt ihrer Kindheit und Jugend, von der sie hin und wieder, wenn sie ausnahmsweise mal ein Glas Wein getrunken hatte, zu schwelgen begann, die sie aber nie wieder sehen wollte, weil
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