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Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)

Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)

Titel: Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisa Klönne
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phantastisch! Schon Tschaikowsky hat sie als Muster der Stilreinheit gepriesen. Und sogar Richard Wagner hat von Mendelssohn Bartholdy gelernt, ja bei ihm abgeschrieben, bevor er ihn verdammte und behauptete, man merke seiner Musik das Judentum an.« Sie schnappt nach Luft. »Und überhaupt: Es ist vollkommen unmöglich, einen besseren
Sommernachtstraum
zu komponieren, als den von Mendelssohn Bartholdy, es ist geradezu lächerlich, auch wenn Hitler das befiehlt und –«
    Er schlägt zu. Ihr Kopf fliegt zur Seite, sie schreit auf, taumelt.
    »Nie wieder sagst du so etwas, hörst du, nie wieder!«
    Sie krümmt sich zusammen, wimmert, hält das Notenblatt immer noch fest umklammert. Andere Kinder sterben. Männer werden dieser Tage im Handumdrehen für ihre Überzeugungen verhaftet, wenn nicht erschossen. In Berlin zeigen sie ganze Ausstellungen mit entarteter Kunst, was Elise zu weiteren Tränenausbrüchen verleitet, und seine älteste Tochter, was tut sie? Hintergeht ihn, verrät ihn. Sein eigen Fleisch und Blut. Wie soll er sie schützen, wenn sie ihm nicht gehorcht?
    »Wo hast du das her, Amalie? Wer setzt dir solche Flausen in den Kopf?«
    Sie zittert, schluchzt. Er reißt sie hoch, zieht sie an sich, fühlt, wie sie sich windet und scheut, ein Kätzchen, das instinktiv vor einer Gefahr zurückweicht. Ihre dünnen Knochen in seinen Händen. Dieses Weiß ihrer weit aufgerissenen Augen. Angst ist das – Angst, die die seine spiegelt –, und das ist es, viel mehr noch als ihr Vergehen, was ihn rasen lässt, irgendein halb bewusster Wesensteil von ihm weiß das. Er schlägt erneut zu, härter. Er darf jetzt nicht weich werden, sie muss aufhören mit ihren Flausen, ein für alle Mal, sonst wird es mit der Familie Retzlaff nicht mehr lange gut gehen.
    »Wo hast du das her, Mädchen, sprich!«
    Ein Schluchzer dringt aus ihrem Mund. Dann, endlich, ein fast unhörbares Flüstern. »Clara hat mir das gegeben. Im Sommer.«

17. Rixa
    Sie war nicht böse, das darfst du nicht glauben.
Der Satz blieb mir im Kopf, ein weiteres Rätsel. Warum ging Monis Großmutter davon aus, dass ich schlecht von Amalie dachte? Und worin bestand die Schuld meines Großvaters?
    Natürlich haben die
Eltern uns geschlagen, wenn wir etwas ausgefressen hatten, Ricki. Das
war damals so, so machte man das. Das war zwar
nicht schön, hat uns aber auch nicht geschadet.
    Schläge. Bestrafung. Bestrafung wofür? Ich versuchte vergebens, Irmi Scholtow noch einmal zum Reden zu bringen. Ich telefonierte mit Onkeln und Tanten. Ich durchforstete die Fotoalben und wenigen erhaltenen Briefe meiner Mutter, durchsuchte das Pfarrhaus, fragte im Dorf nach. Aber die Einwohner Sellins, die sich auf ein Gespräch mit mir einließen, waren zu jung, um sich noch konkret an die Vierzigerjahre zu erinnern, oder sie hatten damals noch nicht hier gelebt; und das, was ihnen zu Pastor Theodor Retzlaff einfiel, waren kaum mehr als Legenden: Eine Autoritätsperson sei er gewesen, eher gefürchtet als respektiert. Ein Nazi wohl auch, hoch gewachsen und blond, mit blitzblauen Augen. Aber seine imposante Erscheinung und seine herrische Art hätten vielen Menschen im Dorf das Leben gerettet, als die Rote Armee einmarschierte. Für ganze Nächte flohen die Frauen damals in die Kirche, und wenn die Soldaten, frustriert, weil sie anderswo niemanden fanden, dort schließlich hineinstürmten, trat ihnen mein Großvater entgegen – im Talar, mit nichts als einem Holzkreuz in den Händen. Da stand er dann und versperrte ihnen den Durchgang ins Kirchenschiff, egal wie wild die Soldaten auch mit ihren Kalaschnikows herumfuchtelten und brüllten und mit den Augen rollten. Er wich nicht zurück, beharrte eisern darauf, dass dies ein Gotteshaus sei und also zu respektieren, so lange, bis die Soldaten sich wieder trollten und dabei regelrecht kleinlaut wirkten, wie gescholtene Lausbuben.
    Mein Großvater, der Held. Mein Großvater, der Pfarrer, der seine Kinder schlug und Katzenbabys ertränkte. Mein Großvater, der Nazi. Mein Großvater, der mit mir in den Wald gegangen war, seine Stimme über mir, in mir. Seine riesige Hand mit den hornigen, akkurat geschnittenen Nägeln, die meine umschloss, warm und trocken und ein wenig rau, sodass ich wusste, mir kann nichts passieren.
    »Unsere Heimat. Siehst du, wie schön sie ist?«
    »Ja, Opa, ja.«
    »Und weißt du, warum man diesen Landstrich auch als Mecklenburgische Schweiz bezeichnet?«
    »Wegen der Hügel?«
    »Richtig, ja. Aber eigentlich

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