Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)
ja doch alles zerstört war, was ihr einst etwas bedeutet hatte: Ihr Elternhaus, die letzten Möbel, die sie dort noch untergestellt und vor der Bombardierung nicht mehr hatte holen können, das Gewandhaus, das Theater, das Museum, die Oper und die Kirche, in der sie einst konfirmiert worden war, deren Ruine die sozialistischen Stadtväter nicht wieder aufbauten, sondern sprengten.
Trauer schwang in den Reminiszenzen meiner Großmutter mit. Trauer um die verlorene Heimat. Eine hartnäckige Melancholie, die auch unausgesprochen bei allen Familientreffen spürbar wurde, wenn ein Moment der Stille eintrat, der nicht sofort durch Anekdoten und Witze und Aktivitäten und Lieder kaschiert wurde. Und zugleich war es genau diese Trauer, die den Familienzusammenhalt förderte. Die Grenze war unser gemeinsamer Feind, gegen den wir uns stemmen mussten, koste es, was es wolle, mit vereinten Kräften. Die Grenze war so allgegenwärtig, dass alles andere an Bedeutung verlor.
Und Amalie? Hatten sich die Retzlaffs auch ihretwegen zu einem Bollwerk zusammengeschlossen? War Amalies Schicksal so furchtbar, dass jede Erinnerung daran noch Jahrzehnte später einen instinktiven Verteidigungsreflex auslöste, ein kollektives Atemanhalten und Leugnen, damit die alten Wunden nicht wieder aufrissen? Oder ging es um mehr, ging es um die Familienehre? Aber selbst wenn Amalie das schwarze Schaf gewesen war: Sie gehörte dazu. Sie war die Älteste. Die erstgeborene Tochter. Die große Schwester. Wie konnten sie sie nicht vermissen?
Amalie. Amalie Retzlaff. Sie ließ mich nicht los, begleitete mich durch die Tage. Ein Gespenst. Eine Schattentante. Manchmal sagte ich laut ihren Namen, wie um mich zu vergewissern, dass sie existiert hatte. Manchmal sang ich ihn. Manchmal, im Aufwachen, wenn ich wieder einmal versuchte, diese Melodie, die mit meinem Albtraum zusammenhing, festzuhalten, war ich beinahe sicher, dass sie Amalies Lied war, ein Schlüssel zu ihr. Ich begann zu rechnen, malte mir Szenarien aus. 1942, als sie von Klütz nach Sellin zogen, war Amalie achtzehn. Erwachsen nach heutigem Gesetz, aber damals noch nicht. Und doch war sie eine junge Frau, kein Mädchen mehr. Eine junge Frau mit eigenem Willen. Drei Jahre später, bei Kriegsende, war sie dann einundzwanzig, volljährig, und blieb doch zu Hause. Oder nicht? Es gab keinen Beweis dafür, nur die spärlichen Andeutungen meiner Onkel und Tanten. 1949 war sie gestorben. In Berlin. Etwas Schreckliches war geschehen. Wegen der Russen. Hatten sie sie vergewaltigt? War das plausibel – vier Jahre nach dem Einmarsch der Roten Armee?
Sie
war krank, Rixa. Ihr war nicht mehr zu helfen.
Vielleicht war das eine Lüge. Vielleicht war Amalie gar nicht krank gewesen. Vielleicht, hoffentlich, wurde sie auch nicht vergewaltigt. Vielleicht war sie schwanger, und deshalb hatten sie sie verstoßen.
In den Jahren auf der Marina war ich kaum je allein gewesen, nur in den raren Nachtstunden auf dem Oberdeck oder in meiner Kabine. Aber dort schlief ich nur, duschte und wechselte die Kleidung. Ich brauchte diese Rastlosigkeit. Diese stete Bewegung von Tag zu Tag, Auftritt zu Auftritt, Saison zu Saison. Ich brauchte das Leben der anderen um mich, die Illusion, dass ich dazugehörte. Ihre Stimmen um mich, ihre Körper. Die Rituale, die sich beim Zusammenleben auf engem Raum zwangsläufig ergaben, die Leichtigkeit und Berechenbarkeit. Das Lachen und Jammern über die Gäste und den Koch. Die Partys, die Überstunden, die schnellen Scherze und Plänkeleien, hin und wieder einen Flirt, hin und wieder eine Affäre. Ich wünschte mich in dieses Leben zurück und schalt mich verrückt, es aufgegeben zu haben, war im nächsten Moment wieder sicher, ein Dasein als Barpianistin nicht mehr ertragen zu können. Ich sehnte mich nach Lorenz und rief ihn nicht an. Ich vertröstete Wolle und Piet, die mich besuchen wollten. Ich vertröstete meinen Vater. Ich durchblätterte mein Adressbuch und starrte lange auf die letzte mir bekannte Anschrift meiner ehemals besten Freundin Lydia, einer Cellistin, mit der ich für Examen und Prüfungen gebüffelt hatte, eine Wohnung geteilt, Kummer und Sorgen und Männergeschichten. Mit der ich durch Kneipen und Klubs getingelt war und Pläne für gemeinsame Auftritte geschmiedet hatte – damals, als Ivo noch lebte.
Pläne. Träume. In den Jahren auf der Marina hatte ich nicht darüber nachdenken müssen, weil ich einfach von Tag zu Tag lebte. Aber nun war ich allein, von den
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