Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)
ins Konzert. Sie springt auf und läuft zum Fenster, presst ihre glühende Wange an die kalte Scheibe. Nebel liegt über der Hardenbergstraße und lässt die Droschke, die unten vorbeizockelt, märchenhaft wirken, wie ein Bild von Chagall, obwohl sie von zwei mageren Kriegskleppern gezogen wird und kein Geigenspieler darüber schwebt. Elise sieht ihr nach, bis sie an der Kreuzung nach Connewitz abbiegt. Man müsste das aquarellieren: den stiebenden Atem aus den Nüstern der Pferde, die Silhouette des Kutschers mit seinem Zylinder. Vorgestern hat ihr dieser Freund Max Pechsteins zugezwinkert und Kunstverstand attestiert. Ganz rot ist sie da geworden, so ein Lob! Aber zu Hause hat sie davon lieber nichts erzählt, damit es nicht gleich wieder vorbei ist mit dieser herrlichen Assistenzstelle im Kunstverlag Otto Beyer.
Wenn sie doch ganztags dort aushelfen dürfte. Und wenn sie niemals heiraten müsste! Im fernen Berlin, da ginge das wohl. Das hat ihr Max Pechsteins Freund auch noch erzählt. In der Hauptstadt ist alles möglich. Da wohnen die Mädchen allein und verdienen ihr eigenes Geld. Da tanzen sie bis in den frühen Morgen, wenn sie dazu Lust haben, ebenfalls allein unter sich oder mit feschen Burschen, da leben und lieben sie, ganz nach Belieben.
Das Fensterglas ist von ihrer brennenden Wange ganz warm geworden. Elise wischt mit dem Ärmel behutsam über den feuchten Fleck, den sie auf der Scheibe hinterlassen hat, und sucht sich eine neue kühle Stelle. Sie hat wirklich fest zugeschlagen, so wie früher der Vater, es tut immer noch weh. Ach, ihr guter Vater. Wie traurig war er immer, wenn er sie züchtigen musste. Wie betrübt ist er, dass es mit seiner einzigen, so von Herzen geliebten Tochter immer noch hapert. Dabei tut er doch wirklich alles für sie. Sogar Vetter Hermann darf seit Oktober sein Studentenquartier im Gästezimmer aufschlagen und bekommt freie Kost und Logis, obwohl doch die Lebensmittelrationen wahrlich knapp bemessen sind. Nur für sie nehmen die Eltern das auf sich, nur damit ihre Elise sich nach dem Jahr in Fräulein Bergs Hauswirtschaftspensionat nicht mehr so allein fühlt und wieder hier in Leipzig eingewöhnt.
Dumme Gans. Dummes Gör. Jetzt sehnst du dich sogar zurück zu Fräulein Berg nach Eisenach, dabei ist Advent, die schönste Zeit des Jahres, die Zeit der Familie. Aber das erste Weihnachtsfest ohne die Eltern war doch sehr denkwürdig gewesen. Monatelang hatte sie sich davor gefürchtet, aber dann türmte sich der Schnee meterhoch, und sie mussten nicht so viel in der Küche ackern wie sonst, sondern durften jeden Tag mit den anderen Mädchen Schlittschuh laufen, und die Kugeln aus dem Erzgebirge in den Schaufenstern glitzerten so. Ganz genau hat sie diese Pracht den Eltern beschrieben, ja sie hat sie sogar für sie gemalt.
Eine wirkliche Sehnsucht nach dem Elternhaus, wie wir es doch in unserer Jugend alle kannten, scheinst du nie empfunden zu haben
, hat der Vater ihr postwendend geantwortet.
Was wir vermissen, ist die Zuneigung zu uns, die man doch ein einziges Mal aus deinen Briefen herauslesen müsste. Aber nichts von alledem – nur ein Drang nach der Ferne und nach unerreichbaren Zielen.
Elise löst sich vom Fenster und setzt sich wieder auf den Schemel vor dem Biedermeier-Frisiertisch mit dem dreiflügeligen Spiegel. Sie ist schon für das Konzert angekleidet, zu dem Hermann und sein Kommilitone sie nach dem Teetrinken mit den Eltern ausführen werden. Das moosgrüne Samtkleid steht ihr wirklich sehr gut, es hat genau dieselbe Farbe wie ihre Augen. Sie beißt die Zähne zusammen und tupft vorsichtig Puder auf ihre pochende Wange. Ein Vergnügen jagt das andere, hat der Vater konstatiert, als er sie in dem Kleid sah. Und das in diesen Zeiten! Elise beißt die Zähne noch fester zusammen und kneift sich so lange in die linke Wange, bis auch die sich rötet. Nun sieht keiner mehr, dass sie sich verletzt hat. So mag es gehen.
Ist es denn wirklich so schlimm, sich auf ein Konzert im Gewandhaus zu freuen? Sie ist schließlich neunzehn. Jung. Sie kann nichts dafür, dass der elende Krieg verloren ist und es das deutsche Kaiserreich nicht mehr gibt.
Wenn Hermann sie heiraten würde, könnte sie ihn schon im nächsten Sommer in seine Heimatstadt Meißen begleiten. Das wäre zwar nicht Berlin, und auch nicht so weit von Leipzig entfernt wie Eisenach, aber an seiner Seite begänne für sie doch ein ganz neues Leben. Und die Eltern würden das gutheißen, das weiß sie. So
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