Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)
schießen.
Sie werden ihn nachts holen, hat er gedacht, aber sie kommen morgens, vor dem Frühstück, gerade noch kann er Elise küssen und die Kinder ermahnen, sich zu benehmen, da sitzt er auch schon neben Wilhelm Petermann im Fond einer pechschwarzen Limousine. 21. Februar 1942. Er sagt sich das Datum vor, versucht sich daran festzuhalten. 21. Februar. 21. Februar. Der Tag der Wahrheit. Der Tag, an dem er bezahlt für die beiden Briefe, die er geschrieben hat. Hier stehe ich und kann nicht anders. Früher, viel früher hätte er schon handeln müssen. Doch er hatte gehofft, immer wieder gehofft. Hatte einfach nicht glauben wollen, in welchen Abgrund sie steuern. Endlösung der Judenfrage. Mord. Barbarei in schier unvorstellbarem Ausmaß. Eine Verhöhnung des fünften Gebots, der Menschlichkeit, Gottes. Aber der Gott lässt sich nicht spotten. Was der Mensch sät, das wird er ernten, so hat es Paulus an die Galater geschrieben.
Wo fahren sie hin? Nein, er will sich nicht die Blöße geben, das zu fragen. Wie seltsam, dass es fast genauso endet, wie es vor zehn Jahren anfing: mit einer Autofahrt an der Seite Wilhelm Petermanns, nur dass sie diesmal nicht allein sind und nicht sprechen, und die Zukunft ist nicht mehr rosig.
Theodor sieht aus dem Fenster. Die Äcker sind kahl, zwischen den Schneeresten picken räudige Krähen. Schuld, seine Schuld, dass er damals nicht auf die Warnrufe hörte, sondern Wilhelm Petermanns Rechte ergriff und einschlug. Ein geeintes, aufrechtes Protestantentum in einem starken deutschen Vaterland, daran hat er geglaubt, daran wollte er mitwirken. Aber das waren nicht die Pläne des Führers, ganz im Gegenteil: Die Befugnisse von Kirchenminister Kerrl wurden von Jahr zu Jahr weiter beschnitten, für die Kirchen in den neuen Ostgebieten war der erst gar nicht mehr zuständig. Und nun, da Kerrl tot ist, bleibt sein Posten vakant, und die Brut zeigt ihr wahres Gesicht. »Niemals darf den Kirchen wieder ein Einfluss auf die Volksführung eingeräumt werden«, hat der Leiter der Parteikanzlei, Martin Bormann, an die Gauleiter im Osten geschrieben. Und Empörung löste daran allein aus, dass diese Weisung entgegen der Anordnung nicht geheim blieb.
Sie fahren durch Wichmannsdorf, und bald darauf erkennt er die ersten Katen von Boltenhagen. Warum fahren sie dorthin? Er hatte mit Ludwigslust gerechnet, mit Wismar, womöglich mit Berlin. Sie passieren das Kurhaus, Hotels, die Klinik, biegen ab auf die Halbinsel Tarnewitz. Die Erprobungsstelle der Luftflotte, Sperrgebiet, sie werden ihn doch nicht etwa da –? Wilhelm Petermann klopft an die gläserne Trennwand zur Fahrerkabine. Der Wagen hält, während Petermann Jalousien vor die Fenster und die Trennscheibe zieht, so dass sie im Dunkeln sitzen, als der Wagen wieder anrollt, nochmals anhält – der Schlagbaum! –, erneut losfährt, kurz darauf über einen offenbar unbefestigten Weg ruckelt, abbremst.
»Hier entlang, Retzlaff, mir nach.« Petermann springt aus dem Wagen.
Theodor steigt aus, zwingt sich, ruhig zu bleiben. Es schneit, aber die Flocken sind grau und haben nichts Weiches an sich. Der Wind kommt von Osten, treibt sie ihm in die Augen. Nicht einmal seinen Mantel hat er anziehen dürfen. Er sieht sich um, erkennt die Rückseite einer Baracke.
»Mir nach, Retzlaff, habe ich gesagt. Hier gibt’s nichts zu glotzen.«
Retzlaff, sagt Wilhelm Petermann, nicht mehr Theo. Einmal als junger Mann wollte er eine jüdische Kaufmannstochter ehelichen, nicht seine Wilma, aber dann ist seine Angebetete nach New York ausgewandert. Denkt er noch manchmal an sie? Packt ihn dann beim Gedanken an die Machenschaften seines Führers das Grausen?
Ein Tisch. Ein Stuhl auf der einen, zwei auf der anderen Seite stehen in der Kammer, in die sie ihn bringen. Das Fenster ist schmal und vergittert und liegt zu hoch, als dass man hinausblicken könnte. Es gibt keine Heizung. An der Wand, die dem einzelnen Stuhl gegenüberliegt, hängt ein Porträt des Führers.
»Warte hier.«
»Worauf?«
Petermann, der schon beinahe wieder aus der Tür war, bleibt stehen, und als er sich zu Theodor umwendet, sieht er erstaunt aus, als habe er vergessen, dass Theodor tatsächlich sprechen kann und sie über zehn Jahre lang Kameraden, ja Freunde waren.
»Worauf soll ich hier warten, Wilhelm?«
»Das wird dir Sturmbannführer Hersching persönlich erklären.«
»Und du hast mir nichts mehr zu sagen?«
Die Tür fällt ins Schloss, Wilhelm Petermanns Schritte entfernen
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