Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)
Stille weggerannt, vor ihren Nachtgeschichten und zum Schluss wohl auch vor meinen Schuldgefühlen, weil ich rannte.
War sie jemals hier in Klütz gewesen? Hatte sie als Mädchen überhaupt Erinnerungen an Amalie gehabt oder erst als Erwachsene von ihr erfahren? Oder nie? Das Pfarrhaus von Klütz lag in der Predigerstraße, etwas abseits der Kirche. Der Pfarrer, der nun darin wohnte, war im Vergleich zu meinem Großvater klein und schmalgesichtig, er musterte mich interessiert, bevor er mir die Hand gab.
»So sieht also eine Enkelin des gestrengen Pastor Retzlaff aus.«
»Sie kannten ihn?«
»Nein. Aber wenn man den Legenden trauen darf, war er wohl stramm auf Linie der Nazis, und er hatte wenig Verständnis für die, die seine Auffassungen von Recht und Unrecht nicht teilten. Ein harter Hund, so sagt man hier von ihm.«
Ein harter Hund. Ich folgte dem Pfarrer in sein Büro, wo er die Kirchenbücher für mich bereitgelegt hatte.
»Ich habe Ihnen auch die Gemeindeblätter kopiert, die ihr Großvater damals herausgegeben hat.«
Mein Großvater. War er das überhaupt?
»Das ist sehr freundlich.«
»Sie können unserer Kirche dafür gern etwas spenden.«
Seine Handschrift, ein weiteres Mal. Auch hier hatte er akribisch Hochzeiten und Beerdigungen, Taufen und Beerdigungen protokolliert, interessanter waren jedoch die Kopien seiner Artikel. »Gottes Wort und Luthers Lehr’ vergehen nun und nimmermehr!«, lautete die Überschrift seines Aufrufs zur »Stärkung der evangelischen Front«. Er schrieb über die Pflichten der Jugend (»Jugend hat keine Tugend«), über Konfirmandenrüstzeiten, bei denen gewandert, gesungen und gezeltet wurde, und über Sturmzeichen, die er am Himmel ausmachte (»Es ballen sich am Horizont zusammen die unheimlichen Wolken der Gottlosenbewegung«). Er schrieb über die Notwendigkeit althergebrachter kirchlicher Sitten und druckte einen Aufruf, deutsches, und nur deutsches Brot zu essen. Er hatte auch eine feste Rubrik eingerichtet, in der er die landschaftlichen Besonderheiten und die Geschichte der Ortschaften des Klützer Winkels sowie plattdeutsches Brauchtum erläuterte (»Kennst du deine Heimat?«). Und dann, im Sommer 1940, endete seine Mitteilsamkeit. Oder waren die Gemeindeblätter seiner letzten zwei Jahre in Klütz nicht mehr erhalten?
Der jetzige Pfarrer wusste es nicht, und er wusste auch nicht, warum Theodor Retzlaff 1942 von der schmucken Kleinstadt Klütz in das Dörfchen Sellin umgezogen war. Ich blätterte noch einmal durch die Kopien, entdeckte das Foto eines Mädchens mit straff gebundenen Zöpfen. 1937. »Amalie, die älteste Tochter von Pastor Retzlaff, trug mit ihrem Gesang wieder sehr zum Gelingen des Weihnachtsgottesdiensts bei«, lautete die Bildunterschrift.
Amalie, das zweite Foto von ihr, das ich fand. Sie hatte gesungen. Sie hatte tatsächlich gelebt, hier in Klütz, in diesem Haus. Sie, ihre Eltern, mein Patenonkel Richard.
Der Kirchenschlüssel, den mir der Pfarrer anvertraute, war kleiner als der von Sellin, das Schloss war modern. Kälte schlug mir entgegen, als ich die Tür hinter mir zuzog, trotz des Sonnenlichts, das selbst jetzt, am späten Nachmittag, noch durch die Fenster flutete.
Zieht euch noch
einen Pullover unter die Jacke und warme Socken an die
Füße. Die Mecklenburger Kirchen sind ungeheizt
, jedes Mal, wenn wir zum Gottesdienst aufbrachen, hatte meine Mutter das gesagt. Ich steckte einen Zwanzig-Euro-Schein in den Opferstock, ging zum Mittelgang, sah mich um.
Gottes Wort währt ewig
, stand in goldenen Sütterlinlettern am Dach der reich verzierten Barockkanzel. Aber Gottes Tausendjähriges Friedensreich hatte Konkurrenz bekommen, denn wie ich von dem Foto wusste, das meinen Großvater bei der Predigt zeigte, hatte die Fahne der Deutschen Christen an dieser Balustrade gehangen und auf ein Reich verwiesen, das ebenfalls tausend Jahre lang währen sollte und wenig mit Frieden und Barmherzigkeit zu tun hatte.
Ich drehte mich um, betrachtete noch einmal das Foto von Amalie aus dem Gemeindeblatt. Weihnachten 1937, da war sie dreizehn gewesen. In ihrem hellen Kleid, Propellerschleifen in den Zöpfen, mit geschlossenen Augen und ihrem Mund, der ein O formte, sah sie aus wie ein Weihnachtsengel.
Vom Himmel hoch
, hatte sie gesungen. Mit glockenreinem Sopran, der die Gemeinde zu Tränen rührte, hatte der Berichterstatter notiert. Und meine Großeltern? Waren sie stolz auf sie gewesen, und wenn ja, hatten sie ihr das gesagt? Ich hielt das Foto
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