Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)

Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)

Titel: Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisa Klönne
Vom Netzwerk:
sich. Theodor geht zu der Wand, wo das Fenster ist. Schiebt einen Stuhl darunter und steigt hinauf. Der Schnee fällt jetzt dichter aus einem stahlgrauen Himmel, sonst sind nur dürre Birken und Kiefern zu entdecken. Er schiebt den Stuhl wieder an seinen Platz, setzt sich, steht wieder auf. Die Zeit kriecht dahin, ein waidwundes Reh. Er friert. Er muss austreten, aber es gibt nicht einmal einen Eimer.
    Stille. Warten. Hin und wieder dringt das Geheul eines Flugzeugs in die Baracke, Schüsse, Explosionen, Schritte nähern sich und entfernen sich wieder, und dann, als Theodor gerade denkt, dass er es nicht aushält, nicht noch eine Stunde, reißt Wilhelm Petermann die Tür auf, und ein SA-Kommandant stürmt herein, Hersching wohl, ein Choleriker, das lassen seine hochroten Wangen erahnen.
    »Heil Hitler!«
    »Heil.«
    Der Sturmbannführer knallt einen Packen Papier auf den Tisch, ohne die Augen von Theodor zu wenden.
    Theodor bleibt stehen, fühlt sich auf einmal nackt. Vielleicht sieht man das nicht, er ist größer als Petermann und dieser Hersching. Stillstehen. Warten. Ein Tier, das Schwäche zeigt, ist leichte Beute.
    »Er will also nicht mehr in der NSDAP sein und auch nicht in der SA, der Pastor Retzlaff.«
    »Ich bitte darum, meinen Austrittsgesuchen nachzugeben, ja.«
    »Bedauerlich.« Hersching zieht eines der Papiere aus dem Stapel. »Bedauerlich, dass er aus seinen frühen Fehlern nichts gelernt hat.« Ein Seitenblick zu Petermann. »Und so seine Kameraden bitter enttäuschte.«
    »Ich wollte nicht –«
    »Maul halten!« Der SA-Kommandant wurstelt eine Lesebrille aus der Uniformtasche und schiebt sie sich umständlich auf die Nase, bevor er das Blatt hochhebt und zu lesen beginnt.
    »Wir haben den Menschen immer zuerst nach seiner geistigen Seite hin zu würdigen, nicht nach seiner Rasse
.
«
    Seine eigenen Worte, sein Artikel über die Rassehygienegesetze, den er für das Gemeindeblatt verfasst hat. Wann war das? Es ist so lange her. 1933?
    »Die geistige Seite, so.« Hersching lässt das Blatt wieder sinken und betrachtet Theodor mit einer Mischung aus Widerwillen und Erstaunen.
    Theodor räuspert sich. »Mein Glaube verbietet mir –«
    »Die geistige Seite macht aber niemanden satt und sie hilft unserem Vaterland auch nicht, diesen Krieg zu gewinnen.«
    »Aber –«
    »Neun Kinder!« Die Faust des Obersturmbannführers donnert auf den Tisch. »Da war er ja sehr fleißig in den letzten Jahren, der Herr Pfarrer, und durchaus nicht nur an der geistigen Seite interessiert.« Wieder ein Schlag auf die Tischplatte. »Neun hungrige Mäuler, die gestopft werden wollen, und eine Ehefrau! Aber wie will er die ernähren, wenn er nicht mehr in Lohn und Brot ist, der Herr Pfarrer? Soll das Reich etwa für seine Brut aufkommen?«
    »Ich möchte meiner Gemeinde selbstverständlich weiter als Pfarrer dienen und niemandem zur Last fallen und für meine Familie Sorge tun.«
    Der Sturmbannführer stößt eine Art Schnauben aus, die Parodie eines Lachens. Wir dürfen die Hoffnung nicht aufgeben, hat Elise gesagt. Die Beckers waren uns doch immer wohlgesonnen, und ich will auch an Wilma Petermann schreiben. Aber Wilma hat nicht geantwortet. Und Probst Becker steht dem Landesbischof nah, einem aufrechten Vertreter der Deutschen Christen.
    »Tja, da weiß er nicht mehr weiter, der Herr Pastor«, konstatiert Hersching. »Wenn’s um die nackte Existenz geht, hilft ihm nämlich auch sein verehrter Herrgott nicht weiter.«
    »Meine Familie ist unschuldig. Sie hat nicht verdient –«
    Sinnlos, völlig sinnlos. Der SA-Kommandant winkt ab und grüßt. Wilhelm Petermann schlägt die Hacken zusammen und packt Theodors Arm.
    »Mitkommen, Retzlaff. Na los.«
    Nein, er wird sich keine Blöße geben, nicht vor Wilhelm. Er wird ihn nicht anflehen und auf die Knie fallen, er wird sich auch nicht einnässen. Er wird wie ein Mann sterben. Denn was der Mensch sät, das wird er auch ernten. Auch Bischof Wurm hat sich auf diese Bibelstelle bezogen. Theodor wollte Wurms Petition im Gemeindeblatt abdrucken und hat das dann doch nicht gewagt, hat stattdessen im letzten Jahr überhaupt nichts mehr veröffentlicht, nun bedauert er das, nun kann er sich nur damit trösten, dass es nicht gut gehen kann, dass Gott richten wird, wenn der Tag gekommen ist. Wie hat Bischof Wurm das noch formuliert?
Entweder erkennt auch der NS-Staat die Grenzen an, die ihm von Gott gesetzt sind, oder er begünstigt einen Sittenverfall, der auch den Verfall des Staates

Weitere Kostenlose Bücher