Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)
nach sich ziehen müsste.
Wohin bringen sie ihn? Er kann es nicht sagen, als sie ihn wieder in die Limousine stoßen, denn die Vorhänge bleiben geschlossen, und Petermann neben ihm sagt nichts, sieht ihn nicht einmal an. Erst als der Wagen nach einer Zeitspanne, die Theodor unmöglich bemessen kann, anhält, ergreift Petermann das Wort, aber was er da sagt, begreift Theodor nicht, und er versteht auch nicht, warum sie ihn nicht erschießen, als er auf diesem Feld im Schnee kniet. Aber sie schießen nicht, sie fahren weg, nach einer langen, unendlich langen Zeit begreift er, dass das kein Traum ist, dass er noch immer lebt und allein ist. Er taumelt hoch, beginnt zu laufen, dunkel ist es schon und es schneit noch immer, und er weiß nicht, wo er ist, aber irgendwann mündet die Landstraße in ein Dorf, das er kennt, und er findet den Weg nach Klütz. Und der Schnee fällt noch immer und er ist ganz durchnässt und kann sich kaum noch bewegen. Und auch Elise sitzt wie versteinert, als er über die Schwelle tritt, und auch sie scheint nicht recht zu begreifen, als er wiederholt, was Wilhelm Petermann gesagt hat. Und so ist es Amalie, die zuerst reagiert und sie fühlen lässt, dass es vielleicht wahr ist, wirklich. Seine Tochter, die ihn seit Hermanns Tod kaum noch angesehen hat.
»Nach Sellin ziehen wir?«, ruft sie mit leuchtenden Augen und springt auf. »Ach, Vater, wie herrlich!«
19. Rixa
Der Anschlag war weich, perfekt, der Klang lyrisch und warm. Die Saiten im Inneren schimmerten. Die schwarze Schellackpolitur schimmerte. Die Elfenbeintasten. Die Pedale. Ein Wunder. Ein Glücksgriff. Vielleicht war es das Werk des Hühnergotts, dass dieser Blüthnerflügel aus dem Jahr 1911 nun mir gehörte und frisch gestimmt in jenem Zimmer stand, in dem mein Großvater einst seine Predigten verfasste. Ich hatte diesen Flügel nicht gesucht, schon gar nicht in dem Gewühl der Haushaltsauflösung, zu der ich gefahren war, um ein paar preisgünstige Möbel zu erstehen. Aber da stand er, eingepfercht zwischen Kisten mit Porzellan und Büchern, und ich hatte, ohne zu zögern, fast meine gesamten Ersparnisse für ihn ausgegeben, 12 000 Euro. Ich würde mir noch ein weiteres Engagement zusätzlich zu dem in Boltenhagen suchen müssen, oder sogar zwei, vielleicht würde ich für die Weihnachtssaison auch wieder auf einem Schiff anheuern. Aber das war mir egal, denn jetzt war ich hier, mit diesem Flügel. Allein die Restaurierung hatte seinen Vorbesitzer vermutlich weitaus mehr gekostet als das, was ich seinem Sohn bezahlt hatte. Alle Stege, die Dämpfung, die Stimmwirbel, die Filze, die Gussplatte, wirklich alles war generalüberholt oder erneuert worden. Und als alles perfekt war, war der Mann, der das veranlasst und bezahlt hatte, erkrankt und gestorben und konnte das Resultat nicht mehr genießen.
Ich war allein. Ich war frei. Ein Teil von mir drängte darauf, nach Zietenhagen zu meinem Onkel Markus zu fahren, zu Richard und zu Elisabeth, und sie so lange nach Amalie zu befragen, bis sie endlich ihr Schweigen brächen. Aber dann fuhr ich doch nicht und rief sie auch nicht an. Etwas ließ mich zögern, hielt mich in Sellin. Vielleicht fürchtete ich den Konflikt. Vielleicht fürchtete ich mich auch vor dem, was ich schließlich erfahren würde. Und nun war da dieser Flügel. Mein Flügel. Und ich konnte – zum ersten Mal in meinem Leben – wann immer und solange ich wollte Klavier spielen, ohne irgendjemanden zu stören.
Ich stapelte die Noten aus dem Studium um mich herum auf dem Boden, entdeckte einstige Lieblingsstücke wieder, spielte tagelang ausschließlich Klassik. Danach feilte ich an meinem Barmusikrepertoire und probierte ein paar neue Stücke aus. Und manchmal setzte ich mich einfach auf die Klavierbank, sah aus dem Fenster zum See oder schloss die Augen und überließ es meinen Fingern, einen Weg über die Tasten zu finden, und wenn mir eine Harmonie oder eine Tonfolge besonders gefiel, versuchte ich sie zu wiederholen, eignete sie mir an und erweiterte sie allmählich. Improvisation war das, vielleicht auch Komposition. Aber manchmal, gerade wenn das, was ich da zu erfinden glaubte, mich besonders berührte, beschlich mich der Verdacht, dass es eigentlich doch nicht ganz neu war, sondern vielmehr an etwas anknüpfte, was ich schon einmal irgendwo gehört und offenbar in mir bewahrt hatte – nicht Musik, sondern Klänge.
Eine Melodie erinnerte mich an Ivo und Piet in ihrem Atelier, denn sie hatte etwas
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