Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)
ins Licht, suchte in den Gesichtszügen dieses singenden Mädchens die der jungen Frau von der Fotografie aus dem Tresor meiner Mutter zu entdecken, die Gesichtszüge meiner Mutter und meine eigenen. Vergeblich, das Bild war zu klein und zu unscharf, und Amalie sah so kindlich darauf aus, sie hätte auch erst zehn oder elf sein können, irgendein Mädchen.
Wo hatte sie gestanden? Oben auf der Empore. Die Holzstufen knarrten überlaut, die Kirchenwände schienen meine Schritte, ja sogar meinen Atem zu verstärken. Hatte Amalie das auch bemerkt, das sogar berücksichtigt? Ich stellte mich an die Stelle, von der ich annahm, dass sie dort gestanden hatte, schloss die Augen, lauschte. Anders als Sellin. Größer. Höher. Man darf nicht nur nach vorn singen, wenn man einen Raum füllen will, nicht nur zum Publikum hin. Denn der Klang breitet sich in alle Richtungen aus. Man muss das mitdenken, muss sich in eine Klangglocke visualisieren.
Ich öffnete die Augen wieder. Das hatte Amalie ganz sicher nicht gedacht. Aber vielleicht hatte sie es trotzdem so empfunden. Vielleicht ähnelte meine Stimme ihrer ja sogar, damals jedenfalls, bei jenem verpatzten
Winterreise
-Konzert, als ich ebenfalls dreizehn gewesen war. Vielleicht war es allein die Erinnerung an Amalie, die diese Erstarrung meiner Großeltern und meiner Mutter auslöste.
Ich drehte mich zur Orgel um. Das Instrument des Gottesgerichts, der Strafe, so hatte ich das als Kind immer empfunden. Zu laut, zu pompös, zu rechthaberisch. Zu viel Wind, dachte ich, und musste unwillkürlich lächeln, als ich wieder hinunter ins Kirchenschiff stieg. Ich hatte auch Bach nie gemocht oder Händel – ein Frevel, nicht nur aus musikwissenschaftlicher Perspektive, sondern auch aus Sicht aller aufrechten Protestanten. Wie sollte man das Christfest ohne Weihnachtsoratorium überstehen?
Der Altar war trotz der hellen Marmorsäulen, die das Bildnis des gekreuzigten Jesus einrahmten, düster und schien alles Licht aus den Fenstern zu schlucken. Selbst die Alabasterengel, die ihn flankierend gen Himmel zeigten, wirkten nicht sonderlich hoffnungsfroh, sondern eher so, als müssten sie sich selbst davon überzeugen, dass aus den höheren Sphären Rettung zu erwarten war. Das Leid Jesu, immer sein Tod. Warum zeigten diese Altarbilder nie die Freude darüber, dass er wieder auferstanden war? Ich trat hinter den Altar, fand an seiner Rückseite eine Auflistung aller Pfarrer, die in der Klützer Kirche seit der Reformation in Luthers Tradition gewirkt hatten. Eine akkurate Chronologie in handgemalten Lettern.
Theodor Retzlaff, 1932–1942, da war er. Ich strich mit dem Zeigefinger über die Buchstaben. Spuren, die er hinterlassen hatte. Spuren seines Lebens. Spuren, die nicht sprachen.
Theodor, 1942
Nachts liegt er wach und betet für die Toten. Und er denkt an Reims und an Richard und sieht wieder und wieder Erich durch die Luft fliegen, ohne Kopf, ohne Beine, in dieser großen, unnatürlichen, rot brennenden Stille. Und er denkt an Hermann, immer wieder an Hermann. Über ein Jahr ist sein Studienfreund nun schon tot. Eine Lungenentzündung, haben sie Elise schließlich mitgeteilt, aber wer soll das glauben? Man hört doch ganz andere Dinge aus Buchenwald und Sachsenhausen.
Die Zeit ist ein Raubtier, rast und wütet, rafft alle hinweg. Und nun ist auch er an der Reihe. Sie werden kommen und ihn holen, das weiß er. Aber er weiß nicht, wann, und was dann geschehen wird, und so hält er einfach fest, was das Seine ist: morgens der Tee mit Elise, das Tischgebet mit den Kindern, das Frühstück. Die Arbeit danach. Die Besuche, die er zu machen hat. Der Unterricht. Die Fürbitten. Die Predigt. Gläserne Tage, kostbar, zerbrechlich. Vielleicht stecken sie ihn ja nicht ins Lager, sondern schicken ihn in den Krieg. Nach Russland diesmal, in diesen Moloch von Land, das das deutsche Heer entgegen aller Ankündigungen in den letzten acht Monaten doch nicht in einer Blitzaktion einnehmen konnte. Er wird untergehen dort, so viel ist gewiss. Die Bolschewiken werden seine Knochen irgendwo verscharren oder einfach verwesen lassen, namenlos und ohne Segen. Wie oft hat er Hermann belächelt, hat sich daran gestört, dass Elise an ihrer Zuneigung zu ihm festhielt, sich in eine Eifersucht gesteigert und Hermann einen Landesverräter geschimpft, einen Feigling. Aber Hermann war der Stärkere, viel stärker als er, damals bereits, auf dem Schlachtfeld von Reims, als er kniete und betete, statt zu
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