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Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)

Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)

Titel: Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisa Klönne
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während Alex und ich im Verlauf des Sommers wählerisch wurden, und ich meist nur meinen Lieblingsstein behielt, den ich an einem Lederband um den Fußknöchel trug, fädelte Ivo seine Steingötter allesamt auf Schnüre, die dann in Köln von seinem Hochbett baumelten und ihn so, wie er behauptete, vor schlechten Träumen und Fußpilz beschützten.
    Ich bückte mich erneut, griff ins Wasser. Tatsächlich, da war einer. Glück, bring mir Glück! Ich schloss die Augen, ließ das Sonnenlicht zu roten Feuerkreisen explodieren. Ich war fünfzehn gewesen, als ich mich zum ersten Mal verliebte, in einen schweigsamen Achtzehnjährigen aus Zietenhagen, der mich auf dem Sozius seines Schwalbemotorrads mit an die Ostsee nahm. Wir hatten Hühnergötter gesammelt und uns geküsst, wenn wir einen entdeckten. Wir hatten gebadet und uns in den Dünen versteckt, um herauszufinden, was außer Küssen noch alles mit zwei Körpern möglich war. Ich weiß nicht, wie Ivo und Alex die Stunden ohne mich verbrachten, aber ich weiß, dass Ivo mir half, meine Mutter zu beschwichtigen und ihr zu suggerieren, ich läge keinesfalls allein mit diesem fremden Jungen in den Dünen.
    Sie glaubte uns nicht, natürlich nicht. Sie war wie besessen von ihrer Angst um mich, die mir irrational vorkam. Weil sie von Amalies Schicksal wusste, deshalb? Sie erklärte nie, was genau sie eigentlich befürchtete, sie kämpfte einfach verbissen darum, mich möglichst rund um die Uhr zu beaufsichtigen, suchte mich zu halten. Aber ich wollte weg und ich wollte frei sein, befreit, so frei wie nie zuvor. Ich hatte ein schlechtes Gewissen deshalb. Ich sah, wie sie litt, und rannte umso schneller. Doch mein Schuldgefühl blieb. Die Schuld war der Preis, den ich für meine Freiheit bezahlte, verstand ich. Und ich nahm das in Kauf, genauso, wie ich akzeptierte, dass etwas zwischen meiner Mutter und mir auf immer kaputtging. Und irgendwann in diesem Sommer entschied ich, dass mein Traum, Pianistin zu werden, vielleicht gar kein Traum bleiben musste, und dass ich das schaffen könnte, auch wenn meine Mutter das ebenso wenig wollte wie meine Rendezvous in den Dünen.
    Ich öffnete die Augen wieder und ließ den Hühnergott in die Tasche meines Blazers gleiten. Ich fror, meine Füße fühlten sich taub an von der Kälte. Meine Stiefel lagen einsam im Sand, dort wo ich sie hingeworfen hatte. Zwei grüne Füße zwischen Algen und Muscheln. Ein Bild für Ivo war das, es hätte ihn inspiriert, vielleicht hätte er das gemalt.
    Ich lief zurück, neben der Wasserkante jetzt, Muschelpartikel zersplitterten unter meinen Fußsohlen, Sand klebte auf meiner Haut, körnig und weich. War Amalie jemals barfuß über diesen Strand gerannt und hatte sich jung gefühlt, lebendig, verliebt? Und was hatte meine Mutter von ihr gewusst? Spätestens bei jenem Ausflug nach Sellin musste meine Großmutter ihr doch irgendetwas von Amalie erzählt haben. Oder täuschte ich mich – war Amalie doch nur einfach ihre große Schwester?
    Ich fuhr, ohne Musik zu hören, nach Klütz. Die Kirche war einmal mehr unproportional groß im Vergleich zu den Häusern, ihr Backsteinturm ragte wie ein Zeigefinger in den Himmel. Ich erkannte das Eingangsportal wieder, vor dem mein Großvater mit seinen SA-Kameraden fotografiert worden war.
    Was hatte meine Mutter mehr geängstigt, damals, als ich fünfzehn war? Mein Entschluss, Musikerin zu werden, oder die Möglichkeit, dass ich schwanger würde oder gar vergewaltigt? Ich schaltete den Motor ab. Schuld, unsere Schuld, dass wir in eine bessere Zeit hineingeboren worden waren. Du spinnst, protestierten Alex und Ivo, wenn ich das sagte, und ich wusste, dass sie recht hatten, natürlich, niemand von uns konnte sich aussuchen, wann er auf die Welt kam. Aber es war dennoch ungerecht, durch nichts verdient, dass wir in einer Demokratie aufwuchsen und im Frieden. Und auch wenn meine Mutter das niemals äußerte, kam es mir manchmal so vor, als würde ich ihr wehtun, wenn ich die Möglichkeiten auskostete, die sich mir boten, als ob ich sie hätte glücklich machen können, entschädigen für all das, was ihr einst entgangen war, wenn ich eine andere wäre.
    Die Schuld der Tochter. Die Schuld, nicht für immer bei ihr bleiben zu können, obwohl wir doch beide Frauen waren. So nah. So gleich und doch so anders. Ich war weggerannt vor meiner Mutter, gestand ich mir ein. Nicht erst seit Ivos Tod, sondern seit jenem Sommer, als ich mich zum ersten Mal verliebte. Ich war vor ihrer

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