Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)
Hektisches, Disharmonisches an sich, wie die zunehmend wütenden Spatelkratzer von Ivo, wenn es mit einem Werk nicht so gut lief, während Piet im Hintergrund gleichmäßig weiterarbeitete oder mit ruhigem Schwung neue Leinwände grundierte. Eine andere Tonfolge taufte ich Kranichgans, weil sie die Rufe der Zugvögel zu imitieren schien, die im März über Sellin hinweggezogen waren, in langen, beständig wabernden Ketten. Ich dachte an dieses Wispern im Schilf und daran, wie der Gesang des Nöck sich wohl anhörte, vor dem unsere Großmutter uns früher so eindringlich gewarnt hatte. Ich versuchte mir noch einmal diese winterliche Stille am See vorzustellen, mit der es eines Tages vorbei gewesen war, weil die Frösche offenbar alle zugleich aus ihren Winterquartieren aufgetaucht waren und nun unermüdlich ihre Sehnsuchts- und Balzrufe quakten. Ich spielte, probierte, horchte. Ich fand, dass meine Hände auf der Klaviatur nicht immer ausreichten, um die Laute zu erzeugen, die ich brauchte, und fing an zu singen, zu schnalzen, zu fauchen. Ich klatschte in die Hände, stampfte auf den Boden, griff am Notenpult vorbei und zupfte an den Saiten. Und manchmal schrie ich sogar oder merkte auf einmal, dass ich schluchzte.
Ich vergaß die Zeit. Manchmal, wenn ich aufhörte zu spielen und plötzlich ein halber Tag vergangen war oder eine Nacht, kam es mir so vor, als erwache ich aus einem Traum oder sei auf einer langen Reise gewesen. Und vielleicht stimmte das ja sogar, vielleicht kam ich in diesen aus der Zeit gefallenen Stunden den Geheimnissen der Retzlaff-Familie näher, auch wenn ich niemanden dazu befragte. Manchmal fühlte sich das tatsächlich so an. Als würde mein Spiel nicht nur meine eigenen Erinnerungen wecken, sondern auch die der früheren Bewohner dieses Pfarrhauses, die in seinem Gebälk und seinen Ritzen nisteten wie die Wurzeln des Efeus. Als beträte ich in diesen Stunden am Flügel eine Zwischenwelt, die genauso undefinierbar war wie das Zwielicht, das nach Sonnenuntergang draußen alles zugleich überzeichnete und verschwimmen ließ, sodass es unmöglich war, zu entscheiden, ob es nun eigentlich noch hell war oder schon dunkel.
Aber die Stare haben keine eigenen Lieder, mein Kind, sie äffen nur nach, was die anderen Vögel singen.
Stimmte das überhaupt, was mein Großvater mir damals erzählt hatte? Es stimmte, verriet mir das Internet. Der Star war ein Meister der Imitation und er war keinesfalls wählerisch. Befand sich ein Starennest zum Beispiel in der Nähe einer Autowerkstatt, ahmten die Jungstare Motoren nach. Oder Kreissägen. Oder Rasenmäher. Je nachdem, welcher Klang eben in ihrer Umgebung dominierte.
Wenn du auslöschst Sinn und Klang, was hörst du dann? Ich setzte mich in die Kirche und lauschte. Ich sang
Vom Himmel hoch, da komm ich her
für Amalie und versuchte zu ermessen, wie lange der letzte Ton nachhallte und ob sich die Stille im Gewölbe danach veränderte. Hatte Amalie auch einmal Schuberts
Winterreise
vorgetragen? Hatte die Erinnerung daran diese Erstarrung meiner Großeltern ausgelöst, als auch ich mich daran wagte? Ich setzte mich auf den Steg am See und hörte den Fröschen zu, dem gelegentlichen Glucksen und Plätschern, wenn ein Fisch an die Wasseroberfläche stieß, dem Schilf, den Wasservögeln, den Mücken, die – genau wie zuvor die Frösche – von einem Tag auf den anderen plötzlich da waren und sich wie ein blutrünstiges Überfallkommando auf mich stürzten, wenn ich mich nicht mit Insektenschutzlotion gegen sie verteidigte.
Ich sah zu, wie der Nöck, der kein Nöck war, seinen Kahn über den See trieb und angelte. Ich ging in die Sauna und sprang, wenn ich die Hitze nicht mehr aushielt, kopfüber ins Wasser. Der See war noch immer eiskalt, selbst Ende Mai, kaum 14 Grad, und raubte mir den Atem. Aber ich tauchte trotzdem so lange unter, bis ich die Frösche nicht mehr hörte und sich das Wasser um mich beruhigt hatte, sodass ich für ein paar Sekunden mit weit geöffneten Augen in dieser großen, grünen Stille dahintrieb wie früher in unserem Tauchspiel.
Mai, dann auf einmal Juni. Der Weg von Sellin nach Boltenhagen wurde mir vertraut, das Pfarrhaus, der Garten, der Friedhof, die Kirche, ja selbst das Dorf, in dem sich so selten etwas regte. Ich fuhr durch das strahlende Gelb der Rapsfelder und durch Alleen blühender Kastanien. Die ersten Mohnblüten säumten den Straßenrand. Die Linde vor dem Pfarrhaus begann zu blühen und im Flügelschlag Hunderter
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