Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)
viele Sorgen wären damit gelöst. Sie wäre dann erwachsen, an Hermanns Seite würde sie ein sinnvolles, gottesfürchtiges Leben führen, sie bekäme wohl auch irgendwann ein eigenes Kindelein, das sie lieb haben könnte. Und Herrmann ist wirklich freundlich zu ihr, ja, er bringt sie zum Lachen. Und nun lädt er sie sogar ins Konzert ein, zu einem Liederabend mit dem großen Paul Bender, für den sie so schwärmt.
Aber Herrmanns Haar wird schon licht, obwohl er sein Theologiestudium noch nicht einmal abgeschlossen hat, und er hat ein Doppelkinn. Und schlechte Zähne. Nein, sie kann ihn nicht küssen oder gar – sie kann einfach nicht. Niemals, nie!
4. Rixa
Ich saß in einem vietnamesischen Schnellimbiss an der Friedrichstraße und aß eine Hühnersuppe mit Zitronengras, als Alex anrief. Die Hauptlunchzeit war schon vorüber, ein turtelndes Pärchen und ich waren die einzigen verbliebenen Gäste. Neben mir auf der Holzsitzbank lagen Plastiktüten mit Einkäufen. Draußen auf der Straße rutschten dick vermummte Passanten vorbei. An der aufwendig restaurierten Fassade des Geschäftshauses gegenüber jagten leuchtende Werbeschriften über ein Display, als gelte es, selbst die kleinste Reminiszenz an das dunkle Ostberlin von einst zu eliminieren.
»Alex, na endlich!«
Die Verbindung war gut. Nur ein feines Rauschen erinnerte daran, dass Satelliten unsere Worte durchs Weltall katapultierten, um die Distanz von mehr als 15 000 Kilometern zu überwinden. Irgendein Musikwissenschaftler hat einmal behauptet, alles, wirklich alles, habe einen Klang, selbst Planeten und Sterne, und angeblich gäbe es sogar Methoden, diese Himmelsmusik zu messen. Aber vielleicht war das Quatsch, ein gigantischer Irrtum, vielleicht schwirrten einfach nur Satzfetzen durchs All, Liebesschwüre und Abschiede, Lügen und Hoffnungen, lauter menschliche Dramen.
»Ich bin auf dem Wasser, Rixa, ich habe gerade erst – Moment mal, sorry …«, Alex wandte sich offenbar vom Telefon ab und sagte etwas auf Englisch, das nicht für meine Ohren bestimmt war. Ich hörte etwas rascheln und ein unidentifizierbares Klacken, dann das gedämpfte Gemurmel einer anderen Männerstimme und Schritte.
Professor Alexander Hinrichs,
Mr. Always so busy
. Meinem Vater hatte das immer gefallen, meinen Großeltern auch: nicht rumsitzen, sondern etwas schaffen, das nützlich war oder doch zumindest ein handfestes Ergebnis hervorbrachte. Einen Augenblick lang erinnerte ich mich daran, wie wir in den Mecklenburgsommern gewesen waren, ich sah uns regelrecht vor mir, unversehrt und lebendig, fast zum Greifen nah. Alex ist etwa zehn und geht uns voran durch den Garten zum Poseriner See. Ivo und ich folgen ihm mit etwas Abstand. Wir tragen Plastikschaufeln und Eimer und Handtücher, wir kichern und knuffen uns mit den Ellbogen in die Seiten, weil wir Alex’ zielstrebigen Gang imitieren. Wir konnten nie wissen, wie diese Fopperei für uns enden würde. Meistens war Alex zu sehr in seine Forschungen vertieft, um uns zu beachten. Manchmal fuhr er aber auch herum und scheuchte uns fort, manchmal tat er so, als wäre er ein Monster und an seinen langen, sehnigen Armen befänden sich schreckliche Klauen. Und wenn er besonders gut gelaunt war, durften wir ihm bei seinen Forschungen helfen.
Zählt mal die Kaulquappen dort in dem Eimer. Guckt mal, wie viele Krebse ihr findet. Wie groß die sind. Wie viele Beine die haben und welche Farbe
.
Ein paar Minuten lang ging das immer gut. Es war ja auch spannend. Der sandige Schlick quetschte sich samtweich und herrlich kühl zwischen unsere Zehen, wenn wir am Ufer entlangwateten. Die Krebse, die wir in die Eimer setzten, glotzten vorwurfsvoll und drohten mit ihren Zangen. Aber dann machten wir doch wieder etwas falsch, oder einer von uns verlor die Lust, meistens Ivo. Er wollte die Krebse nicht mehr zählen, er wollte sie zu einem Wettrennen dressieren. Oder nachgucken, was da im Schilf so rauschte. Oder Alex nassspritzen und baden. Wieso sollten wir unsere Ferienabenteuerwelt auch vermessen und katalogisieren?
»Sorry, Rixa, wir sind hier gerade in einer ziemlich hektischen Phase.«
»Es geht um Mama, Alex. Sie ist…«
»Ich weiß. Die Polizei hat bei meiner Sekretärin am Institut eine Nachricht hinterlassen, schon vor ein paar Tagen, aber Janet hatte Urlaub und ich war ein paar Tage lang auf dem Wasser.« Er holte Luft. »Sie hat mich gerade erreicht, deshalb rufe ich an. Was für ein Drama.«
»Du musst nach Berlin kommen, Alex.
Weitere Kostenlose Bücher