Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)
Vergewaltigung, das Kind eines Russen? Mein Großvater hatte blaue Augen gehabt, meine Großmutter grüne. Und Amalie? Hatte sie dieses Grau an meine Mutter, Ivo und mich vererbt oder dieser unbekannte Soldat?
Ich hängte die beiden Ölporträts von Theodor und Elise in den Eingangsbereich des Pfarrhauses. Das Schwarz-Weiß-Foto von Amalie und eines von meiner Mutter, und schließlich auch noch mein Barpianistin-Werbeplakat und dieses glückliche Sommerbild von Ivo, Alex und mir, das in Berlin auf ihrem Kühlschrank gestanden hatte. Alle meine Toten, jetzt sahen sie mich an, sobald ich das Haus betrat, blickten mir nach, wenn ich es wieder verließ, schienen auf mich zu warten. Es war merkwürdig, aber es gefiel mir, vielleicht weil sie sowieso immer bei mir gewesen waren. Ich trug sie in mir, ob ich mich nun dagegen wehrte oder das akzeptierte.
Ich nahm mir noch einmal die Familienalben vor, auf der Suche nach weiteren Fotos, die ich vielleicht an meine Ahnenwand hängen könnte. Es gab kein einziges Bild, das meine Großmutter und Mutter entspannt und innig miteinander zeigte – jetzt, da ich von Amalie wusste, fiel mir das auf. Wenn die beiden auf Gruppenfotos nebeneinander zu stehen kamen, standen sie stramm und blickten zum Fotografen. Aber es gab auch ein Jugendfoto von Elise als noch unverheiratete Frau, das zeitlos, ja modern wirkte. Sie stemmte die Arme darauf in die Hüften und blickte herausfordernd in die Kamera, bereit, die Welt zu erobern, komme, was wolle. Ich rahmte auch das, blätterte weiter und erschrak, als ich erneut auf das Foto von meinen Großeltern aus dem Jahr 1946 stieß, das mich schon erschüttert hatte, als ich es in Berlin zum ersten Mal entdeckte. Sie sahen alt darauf aus, mager, verhärmt, resigniert, viel älter als auf den Ölporträts, die vier Jahre später von ihnen gemalt worden waren. Der Krieg sprach aus ihren Gesichtern, der Verlust, der Hunger. Doch in den Augen meines Großvaters glaubte ich noch etwas anderes zu entdecken, etwas Intimeres: eine schier unendliche Trauer. Warum 1946, als Amalie noch lebte?
Ich konnte den Anblick dieses Fotos auf einmal nicht mehr ertragen, legte das Album beiseite und trat ans Fenster. Über den See kroch schon wieder das Zwielicht. Mein Kopf tat weh und ich hatte Hunger, aber vor allem wollte ich dieses Bild wieder loswerden, dieses Bild und meine Gedanken.
Die Sauna, der See. Ich wartete in ein Handtuch gehüllt auf der Holzbank im Vorraum, während der Ofen anheizte, hörte dem Knistern der sich erwärmenden Balken zu und beobachtete, wie der Nöck weit draußen zu seinem Stammplatz ruderte. WEGA hieß seine Band, und zu DDR-Zeiten hatte ihr Ruhm tatsächlich so hell gestrahlt wie der Leitstern, nach dem sie benannt worden war. Und als die Mauer gefallen war, hatten sie auch in Westdeutschland Publikum erobert, es hatte sogar erste Anfragen aus Amsterdam, Madrid und den USA gegeben. Aber dann war die Sängerin tödlich verunglückt, und die verbliebenen WEGA-Musiker gingen eigene Wege – nicht so erfolgreich und wohl auch nicht sehr glücklich.
Eine Chance hatte man, nur eine, war es so? Die Saunakabine war jetzt heiß genug, ich legte mich auf die Holzbank und dachte zum ersten Mal seit Tagen wieder an Lorenz und dass ich ihn anrufen wollte, ihn bitten, mit seinem Saxofon in der Kirche zu improvisieren. Ich würde auch Piet und Wolle nach Sellin einladen und sie fragen, ob sie mir eins von Ivos unvollendeten Ostseebildern aus dem Atelier mitbringen könnten. Bald, vielleicht schon morgen.
Die trockene Hitze hüllte mich ein und trieb den Geruch nach Harz aus den Wänden. In Russland schwitzte man in der Banja und peitschte sich die Haut mit in Wasser getränkten Birkenreisigbündeln. Vielleicht hatte sich dieser Soldat, der meine Mutter gezeugt hatte, danach gesehnt und bedauert, dass es in diesem Land, in das ihn der Krieg geführt hatte, keine Sauna gab. Vielleicht, nein wahrscheinlich, hatte er niemals von seiner deutschen Tochter erfahren.
Wer wäre ich, wenn ich in eine andere Zeit hineingeboren worden wäre, in ein anderes Land, und nicht in Wohlstand und Frieden und Demokratie? Und wer, wenn es in meiner Kindheit nicht diese endlosen Mecklenburgferien gegeben hätte, nicht meine Eltern, meine Brüder und die Retzlaff-Familie?
Ich dachte an all die Familientreffen aus Kindertagen. Die Fahrten über Land mit Onkel Richard. An die Fotos aus dieser Zeit, die offenbar allesamt dokumentieren sollten, dass wir es im Leben zu
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