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Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)

Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)

Titel: Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisa Klönne
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Bienen zu summen. Der Schreiner Boltenstern befestigte Fliegengitter an den Fenstern und zimmerte mir eine Ecksitzbank für die Küche. Othello erlernte die Mäusejagd und präsentierte mir die Beweisstücke seiner Tatkraft wie Trophäen auf der Fußmatte oder schmuggelte sie ins Haus, und ich brachte es nicht übers Herz, ihn deshalb zu schelten. Ein hutzeliges Männlein, das Moni mir empfohlen hatte, kam mit Schubkarre, Hacke und Schaufel und half mir dabei, ein paar Beete anzulegen und zu bepflanzen. Hin und wieder klopften jetzt Touristen an die Pfarrhaustür und baten mich um den Schlüssel, weil sie die Kirche besichtigen wollten. Ich begleitete sie nie, bat sie nur, sorgfältig wieder abzuschließen und den Schlüssel zurückzubringen, was sie immer taten. Nur für eine Engländerin machte ich eine Ausnahme.
    Sie war Germanistikdozentin und erforschte die Inschriften auf den Mahnmalen, mit denen man in Deutschland an die Weltkriegsopfer und Vertriebenen erinnerte. In Ostdeutschland würde der Begriff Heimat viel seltener verwendet als im Westen, erläuterte sie. Und interessanterweise seien die Mahnmale für Vertriebene oft unbehauene Findlinge. Steine, die man aus ihrer Umgebung gerissen hatte – wie die Flüchtlinge selbst und die Endmoränen. Ich setzte mich auf die Friedhofsmauer, als die Engländerin wieder fort war, und betrachtete den mit Flechten überzogenen Fels der Von-Kattwitz-Familie. Waren die Gutsherrin Clara und ihr neugeborener Sohn Daniel gestorben, als die Russen ihr Haus besetzten? Waren die Soldaten sogar ihre Mörder?
    Nie, niemals hatte mein Großvater sein eisiges Schweigen über diese Ereignisse gebrochen, immer nur hatte er gegen die Kommunisten gewütet. Was war in ihm vorgegangen, als er Clara und Daniel beerdigte? Sie und all die Flüchtlinge aus dem Osten und wahrscheinlich auch viele Freunde? Er hatte zwei Weltkriege überstanden, zwei deutsche Niederlagen. Er hatte erlebt, wie seine schlimmsten Befürchtungen wahr wurden und die Rote Armee sein geliebtes Mecklenburg besetzte. Er hatte die DDR gehasst und war dennoch geblieben.
    Und sein Gott hatte all das zugelassen, hatte auch den Tod seiner Tochter Amalie nicht verhindert, wie Jahrzehnte zuvor den seines Bruders Richard. Haderte mein Großvater deshalb mit Gott? War es Scham, die ihn über seinen gefallenen Bruder, seine eigene Zeit als Soldat und seine SA-Mitgliedschaft schweigen ließ? Schämte er sich womöglich dafür, dass es ihm nicht gelungen war, Amalie vor den Russen zu schützen, verschwieg er sie deshalb?
    Scham, Schuld. Der Volkstrauertag, mit dem man in Deutschland der Kriegsopfer gedachte, war mir immer scheinheilig vorgekommen, ewiggestrig, peinlich. All diese jungen Männer, die einst für die falsche Sache ins Feld gezogen waren, erst für den Kaiser und dann für Hitler, die so viel Leid über die Welt gebracht hatten, wieso sollte ich ihnen danken, sie ehren? In England war das anders. Dort hefteten sich auch junge Leute am
Rememberance Day
rote Papierblumen an Jacken und Mäntel, um daran zu erinnern, dass das Blut britischer Soldaten im Ersten Weltkrieg Flanderns Schlachtfelder so rot gefärbt hatte wie Mohnblüten. Die englischen Soldaten hatten, wie es in dem berühmten Flanderngedicht hieß, ihr Leben für die Freiheit ihrer Nachfahren gelassen und nur wenn diese das niemals vergaßen, fänden sie Frieden. Und sie hatten gesiegt, gemeinsam mit den Alliierten, und uns Deutsche zur Demokratie gezwungen. Auch wir mussten ihnen also dankbar sein, viel mehr als unseren eigenen Soldaten.
    Ich dachte daran, wie die Augen meines Großvaters geleuchtet hatten, wenn er von der Schönheit Mecklenburgs sprach. Ich dachte an seinen Traum von der Wiedervereinigung, und dass ihn das heutige Deutschland vermutlich doch nicht glücklich gemacht hätte, denn die Welt, nach der er sich sehnte, war unwiederbringlich verloren. Ich stand auf, wandte dem Friedhof den Rücken zu, lief zurück zum Pfarrhaus, auf demselben Pfad, den auch er sicher unzählige Male gegangen war. Der Himmel war durchsichtig, über mir stritten Krähen. Auf einmal kam es mir so vor, als hätte ich etwas von meinem Großvater verstanden, was mir zuvor so nicht bewusst gewesen war. Etwas über ihn und seine Generation, ihre Bitterkeit, ihre Härte.
    War er überhaupt mein Großvater? Oder mein Urgroßvater, weil meine Mutter gar nicht seine Tochter, sondern seine Enkelin gewesen war, ein Kind, das vergiftete Gene in sich trug, die Frucht einer

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