Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)
etwas gebracht hatten. Wie unglaublich proper wir alle darauf aussahen: die Männer in Hemd und Pullundern, wir Kinder mit Kniestrümpfen, die Frauen mit aufgebügelten Kleidern. Hatten Richard und meine Mutter je miteinander über ihre Verletzungen gesprochen, und über Amalie? Wahrscheinlich nicht, oder wenn, dann nur in Andeutungen, weil sie keine Worte fanden, um all das auszudrücken, was sie fühlten, weil es vielleicht überhaupt keine Worte gab, das zu beschreiben. Stattdessen entschieden sie sich mit der allen Retzlaffs eigenen Energie und Disziplin dazu, nach vorn zu schauen, nur nach vorn, und mit vereinten Kräften ein besseres Leben aufzubauen, für uns, ihre Kinder. Aber manchmal war es mir damals dennoch so vorgekommen, als befände ich mich in einer Scheinwelt, die sich jederzeit auflösen konnte, auch wenn alle das leugneten.
Schweiß strömte mir übers Gesicht und bald aus allen Poren. Ich schloss die Augen und überließ mich der Hitze und der Leere, die sich allmählich in meinem Kopf ausbreitete, und als ich es nicht mehr aushielt, rannte ich auf den Steg und stürzte mich ins Wasser. Ein Sprung ins Eis, aber es war herrlich, prickelnd, ich war lebendig. Ich ließ mich wieder an die Oberfläche treiben, sah erst jetzt, dass der Kahn mit dem Nöck nicht mehr auf seinem Stammplatz war, sondern direkt auf mich zuhielt. Ich tauchte erneut unter und zählte bis zehn. Hielt es nicht mehr aus und schoss wieder nach oben. Mein Körper brannte vor Kälte. Ich schwamm zum Steg zurück und trat Wasser. Der Kahn kam noch näher.
»Hallo, Klavierspielerin.«
Er hielt etwa fünf Meter entfernt von mir. Ich griff nach der Leiter, ohne mich aus dem Wasser zu ziehen.
»Hallo, Bootsmann.«
»Ich wohne da drüben«, er deutete hinter sich.
»Ich weiß.«
»Du spielst gut. Deine Stimme klingt auch gut.«
Er konnte mich also hören, das war mir nicht bewusst gewesen.
Er grinste. »Der See trägt den Schall.«
Es war kalt. Sehr kalt. Wurde von Sekunde zu Sekunde noch kälter.
»Mach mal die Augen zu, ich will aus dem Wasser.«
Er nickte, drehte sein Boot mit dem Paddel so, dass er mir den Rücken zuwandte. Ich kletterte auf den Steg, sprintete zu meinem Handtuch.
»Und jetzt?«, rief ich, als ich etwas weniger nackt war.
»Wir könnten ein Feuer machen und was zusammen trinken.«
»Ah ja?«
»Oder du spielst mir was vor.«
Die Mücken kamen, ein Angriff von mehreren Seiten. Ich erwischte eine auf meiner linken Schulter, fühlte im selben Moment einen neuen Stich an der Wade. Ich hüpfte und wedelte mit den Händen.
»Ein Feuer hilft. Der Rauch vertreibt sie.« Der Nöck, der im richtigen Leben Eike hieß, wie mir der Boltenhagener Hoteldirektor inzwischen verraten hatte, legte den Kopf schief.
Ich schlug eine Mücke auf meinem Unterarm tot. »Ich muss jetzt duschen und mir was anziehen. Und ich brauch’ was zu essen.«
»Heißt das ja?« Er hielt eine Flasche Wein hoch.
»Also gut, überredet. Holz liegt neben der Veranda.«
Ich fühlte den nächsten Stich am linken Schienbein und rannte los, ohne seine Antwort abzuwarten. Doch vom Haus aus sah ich, dass er seinen Kahn am Steg vertäute, und als ich mich für ein Outdoorrendezvous mit einem alternden Ex-Stargitarristen einigermaßen gerüstet fühlte, stieg hinter dem Baumstamm, auf dem ich manchmal saß und den See betrachtete,Rauch auf.
Ich packte Gläser, Besteck, eine Flasche Wasser, Käse, Tomaten und Schwarzbrot in einen Korb und steckte zur Sicherheit noch mein Autan ein.
»Mehr hab ich nicht, aber wenn du magst, dann greif zu.«
Er nickte und schenkte uns Wein ein. Bordeaux. Wir prosteten uns zu. Er schmeckte samtig.
Die Flammen züngelten zu einem dickeren Ast, leckten an ihm, fraßen sich fest. Der Rauch trieb zum Wasser hin. Das Zwielicht wich immer noch nicht und hielt die Nacht in Schach, das Schilf wirkte unwirklich, als würde es von innen heraus leuchten. Ich schnitt eine Tomate auf, belegte eine Scheibe Schwarzbrot mit Käse, schlang sie herunter. Wann hatte ich heute zum letzten Mal etwas gegessen? Mittags irgendwann, ein spätes Frühstück.
Eike sah mir zu, Ike, wie er sich als WEGA-Gitarrist genannt hatte, obwohl jeder, jedenfalls im Westen, bei diesem Namen sofort an Tina Turners Kotzbrocken von Ex-Ehemann dachte.
»Das nächste Mal bring ich Fisch mit. Der Schlei beißt dieser Tage sehr gut.«
»Wenn du den dann auch zubereitest, gerne.«
»Kein Problem.«
»Ich heiße übrigens Rixa.«
»So steht das im Hotel
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