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Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)

Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)

Titel: Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisa Klönne
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am Mitteilungsbrett.«
    »Bist du da öfter?«
    »Harrys Boot liegt dort in der Marina.«
    Harry, das war der Drummer. Eike stellte sein Glas ins Gras und nahm sich eine Scheibe Brot und ein Stück Käse, und die bedachtsame Weise, auf die er das tat, erinnerte mich an Othello. Ich drehte mich um, entdeckte die Silhouette des Katers im Gras, wachsam, in sicherer Entfernung. Ich schnitt ein Stück Käse ab, warf es in seine Richtung. Er zögerte, holte es sich dann doch, und ich merkte, dass mich das freute. Die Frage war, wer hier eigentlich wen zähmte, manchmal in letzter Zeit war ich mir dessen nicht mehr absolut sicher.
    »Mein Seil«, sagte Eike.
    »Wie bitte?«
    »Es war mein Kletterseil, mit dem Susanne abgestürzt ist. Es war alt, es ist gerissen. Ich hatte es aussortiert, aber nicht weggeschmissen, sondern in der Garage in einer Schublade verwahrt, ich dachte, ich könnte es noch mal für etwas gebrauchen. Susanne hat es genommen, ohne mich zu fragen, sie hatte es eilig und wollte mich nicht wecken.«
    »Scheiße.«
    Er nickte. »Das ist der Teil der WEGA-Geschichte, der nicht in der Zeitung steht.«
    »Und warum erzählst du sie mir dann?«
    »Weil du eine von denen bist, die nicht fragen und den Mund halten können.«
    »Das weißt du?«
    »Stimmt’s etwa nicht?«
    Er trank einen Schluck Wein, hielt sein Glas danach so, dass sich das Feuer darin spiegelte. Aber er sah nicht richtig hin, sondern über den See, an dessen anderem Ufer irgendwo das Haus lag, das er nach der Wende gekauft hatte, von seinem Anteil an der ersten Westplatte. Ein Haus mit einer Garage, für sich und seine Freundin. Susanne, die Sängerin, mit dieser Stimme, von der Kritiker schrieben, sie ähnele der Janis Joplins.
    Ein Ast zerbarst, wir zuckten beide zusammen und ich dachte an Ivo und an die Lagerfeuer, die wir früher immer bei den Familientreffen entfacht hatten, und wie er nie still sitzen konnte, sondern immer in der Glut herumstocherte, Holz nachlegte oder mit einem Stock die glühenden Balken zusammenschob. Und ich dachte, dass ich vielleicht demnächst ein Klavierstück über das Feuer erfinden würde. Und ich war mir beinahe sicher, dass ich Eike von Ivo erzählen wollte, von dieser letzten Nacht im Atelier, in der ich lieber Klavier spielen wollte, statt meinen betrunkenen Bruder an die Ostsee zu kutschieren. Und während ich mir das vorstellte, merkte ich, dass die Erinnerung an diese Nacht aus irgendeinem Grund nicht mehr so wehtat, obwohl ich nicht hätte erklären können, warum oder seit wann das so war, es war einfach geschehen, hier in Sellin, in den letzten Wochen.
    Ich schenkte mir Wein nach, dachte erneut an die Lagerfeuer von früher. An das warme Lübzer und Rostocker Pilsner, das wir getrunken hatten, und an die Träume, die unsere Cousins und Cousinen uns Westlern irgendwann mit gesenkter Stimme verrieten: doch noch auf die Oberschule gehen und studieren dürfen, auch als Pfarrerskind und ohne SED-Parteibuch. Eine eigene Wohnung zugewiesen bekommen, ohne zu heiraten. Einen Trabant kaufen können, und sei er gebraucht. Einmal nach Schweden reisen. Nach Indien. Oder wenigstens all die Schallplatten von den Bands kaufen, die man wirklich gut findet. Und ein Stones-Konzert besuchen. Udo Lindenberg. Genesis. Karat. Omega. WEGA.
    »Wie habt ihr das früher eigentlich mit der Zensur gemacht?«
    »In den Liedtexten meinst du?«
    Ich nickte.
    »Wir haben den lieben Damen und Herren von der Stasi immer was eingebaut. So richtig fett, nicht nur einen Wink mit dem Zaunpfahl, sondern einen Mast. ›Mauern müssen fallen.‹ ›Nackte Titten.‹ So was.«
    »Und dann?«
    »Da haben sie sich dann dran festgebissen, genau so, wie wir das kalkuliert hatten. Und wir diskutierten lange mit ihnen hin und her und gaben uns schließlich sehr kleinlaut geschlagen und versicherten, wir hätten zwar beim Texten nicht im Traum an die Berliner Mauer gedacht, schließlich sei das ein Lied über Liebeskummer, aber gut, sie hätten uns überzeugt, wir würden die Mauer streichen.« Er grinste. »Und über all diesem Hin und Her haben sie dann völlig übersehen, dass letztlich das ganze Lied davon handelte, rüberzumachen. Es hieß sogar so.
Einfach weggehen

    Weggehen. Rübermachen. So wie meine Mutter das damals getan hatte. Allein. Mit fünfzehn. Ohne Bedauern. Ich dachte an diese Distanz zu ihrer Mutter, die auf all den Fotos aus den Alben so deutlich zu sehen war, eine Distanz, die so viel größer schien als die der anderen

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