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Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)

Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)

Titel: Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisa Klönne
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nur entfernt dazu dienen konnte, seinen Besitzer gen Westen zu transportieren, war verboten, und ich weiß noch, wie beklemmend ich es fand, dass man den Strand, sobald es dämmrig wurde, verlassen musste, wollte man nicht als potenzieller Republikflüchtling gelten.
    »Also, Rixa, was hast du auf dem Herzen?«
    Richards tiefe, wohlklingende Stimme und sein Gesicht, so vertraut. Seine grünen Augen, anders grün als die Ostsee an diesem Tag, dunkler. Jetzt, im Alter, trat seine Ähnlichkeit mit meiner Großmutter noch deutlicher hervor als früher. Ein schöner Mann, der Sohn einer schönen Frau. Falls ihn die Erlebnisse aus seiner Jugend noch quälten, war das nicht zu erkennen.
    Ist deine Schwester Amalie damals in Sellin eigentlich von eurem Vater vergewaltigt worden oder von russischen Soldaten? – Es ging nicht, nicht so.
    »Erzähl mir von Klütz.«
    »Klütz, ach.« Seine Augen suchten die Ferne, ein Lächeln umspielte seine Lippen. »Du hättest den Garten im Sommer sehen sollen. Wohl an die fünfzig Rosenbüsche hatte meine Mutter dort gepflanzt, so eine Pracht. Sie war eine Künstlerin und sprach mit ihren Blumen, und sie düngte die Rosen mit Pferdemist, den sie vom Milchmann bekam, sie schwor, das sei das Allerbeste. Florian hieß dessen Gaul, ein riesiger, lammfrommer Kaltblüter, der den Milchwagen durch die Dörfer zog. Und wir Kinder durften im Sommer hinten zwischen den Kannen und dem Butterfass aufsitzen, wenn wir nach Boltenhagen zum Baden wollten.«
    »Und die Politik?«
    »Vater hat seine Fehler noch erkannt und ist ausgetreten, Rixa.«
    »Wann?«
    »1942.«
    Der Umzug nach Sellin, fort aus der schmucken Kleinstadt in ein Minidorf. Eine Degradierung des in Ungnade gefallenen Pastors Retzlaff.
    »1942 – das war spät, sehr spät.«
    »Das sagt sich so einfach, heute. Und ich glaube, er war schon in den Jahren zuvor nicht mehr auf Linie der Nationalsozialisten gewesen und hat die SA-Uniform eher als Tarnung benutzt.«
    »Ach ja?«
    »Solange sie glaubten, er halte zu ihnen, hatte er eine gewisse Freiheit. Es war ja alles gleichgeschaltet damals, selbst die Christliche Jugend war ein paar Jahre zuvor über Nacht per Generalerlass der HJ angeschlossen geworden, und überall konnten Denunzianten lauern. Aber in den innersten Kreisen der Gläubigen, in den Bibelkreisen, wenn man sich sehr gut kannte …«
    »Da hat er gegen die Politik seiner Partei agitiert?«
    »Er war ein aufrechter Mann. Er hatte Prinzipien.«
    »Und was war dann 1942 auf einmal anders?«
    »Er hat uns das nicht genau erklärt, es hatte in jedem Fall mit Hitlers Rassenpolitik zu tun. Und dann war ja Mutters Cousin im KZ umgekommen, das hat die Eltern sehr mitgenommen, beide. Onkel Hermann – Vater und er hatten zusammen studiert. Mit seinem Tod ist für sie beide etwas zerbrochen, das haben wir Kinder deutlich gespürt.«
    Onkel Hermann – ein Name, den ich noch nie gehört hatte. Was alles noch wurde niemals erwähnt? Und stimmte dieses Bild, das Richard zeichnete, oder war es nur eine Verklärung?
    »Ich habe meine Eltern damals bewundert, Rixa. Es erforderte großen Mut, der Partei den Rücken zu kehren. Gerade 1942, als sich schon abzeichnete, dass der Krieg wohl nicht so leicht zu gewinnen wäre. Und für meinen Vater hieß der Austritt ja auch noch, sich mit seinem Freund zu überwerfen.«
    »Seinem Freund?«
    »Wilhelm Petermann. Der Landrat. Er und seine Frau gingen bei uns ein und aus.« Richard lächelte. »Sie haben uns immer Bonbons mitgebracht. Himbeerdrops. Und manchmal fuhr Onkel Willy, so nannten wir ihn, uns in seinem Automobil einmal um den Marktplatz, das war das Größte.«
    Der freundliche Nazi. Ein weiterer Mann mit zwei Gesichtern. Immer wieder war das die gleiche Geschichte.
    »Es wurde nie ganz klar, ob nicht letztendlich Wilhelm Petermann dazu beigetragen hat, dass sie meinen Vater unbehelligt ließen. Doch zumindest nach außen hin blieb Petermann ein strammer Nationalsozialist. Bei Kriegsende ist er mit seiner Familie ins Wasser gegangen. Sie hatten sehr spät noch Nachwuchs bekommen, Zwillinge, zwei Mädchen. Aber keiner von ihnen konnte schwimmen. Die Schreie der Kleinen waren wohl sehr lange zu hören. Als er davon erfuhr, war mein Vater sehr erschüttert.«
    Der aufrechte Christ. Der gute Vater. Ich wollte so gerne, dass das die Wahrheit war.
    »Erzähl mir, was in Sellin geschehen ist, Richard.«
    »Ich habe dort nicht lange gelebt, ich musste ja in den Krieg.«
    »Aber in der Zeit, als Opa

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