Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)
Mächtige Freunde hast du, hat ihm Wilhelm Petermann damals ins Ohr gezischt. Aber nimm dich in Acht: Becker wird sich nicht noch einmal für dich verwenden, und auch nicht von Kattwitz.
Dort entlang, das ist der richtige Abzweig, hier ist er gekommen, auf diesem Waldweg. Die frische Luft tut ihm gut, doch der Todesgeruch will noch immer nicht weichen, genauso wenig wie die Erzählungen dieses Jungen. Männer, die sich von Flugzeugen in den Himmel hinaufreißen lassen – in den sicheren Tod – allein für die Illusion, in die Freiheit zu fliegen, raus aus dem Kessel, aus Russland – in die Heimat, gen Westen. Man kann das nicht ermessen, so viel blinde Verzweiflung, kann es nicht begreifen. Man weiß nur, dass das, was der großdeutsche Rundfunk und die Wochenschau vermelden, schon längst nicht mehr wahr ist.
Der Neuschnee ist tief, jeder Schritt ein Kampf. Theodor stolpert und fängt sich, hastet gleich wieder weiter. Etwas treibt ihn voran, wild, beinahe schmerzhaft. Wenn sie ihn holen und nicht gleich erschießen, wird er mit dem Heer nach Russland müssen. Wenn die Russen ihn je in die Hände bekommen, wird er in einem sibirischen Gulag verrecken. Und das wäre gerecht, denn er hat dieses Deutsche Reich mit hinaufbeschworen, diese Hydra, die nun ihre Kinder frisst. Aber noch ist es nicht so weit, noch ist er frei, noch hält Gott seine schützende Hand über ihn und die Seinen.
Der Weg kreuzt die Chaussee, führt in einer Biegung zum Gutshaus. Es ist noch erleuchtet, natürlich. Die Gespielinnen des Hausherrn geben sich in diesem Sündenpfuhl die Klinke in die Hand, halbseidene Geschöpfe aus Berlin, von denen Franz von Kattwitz behauptet, sie wären Schauspielerinnen oder Sängerinnen und kämen, um seine Frau zu besuchen. Clara kann nichts dafür, dass ihr Mann sie betrügt, sagt Elise ihm immer wieder. Wo soll sie denn hin, mit Melinda und Heinrich? Elise hat recht, das weiß er. Und er weiß auch, dass sie in Clara von Kattwitz’ Schuld stehen, denn ohne sie hätte der Gutsherr sich niemals für ihn eingesetzt.
Musik! Plötzlich ist da Musik, trifft ihn mitten ins Herz. Ein Klavier, dann Gesang, so sphärisch und schwebend, als sei doch noch nicht alles verloren. Als schicke Gott einen Engel für diesen Jungen, für ihn selbst, für sie alle.
»… Herr, höre unser Gebet …«
Theodor erstarrt. Der
Elias
. Nein, das ist ganz unmöglich.
Doch das Lied ebbt nicht ab, wird nur noch intensiver. Eine zweite, dunklere Frauenstimme gesellt sich dazu, umschmeichelt den hellen Sopran, der ihm von Sekunde zu Sekunde vertrauter erscheint, liebkost ihn so sehnsuchtsvoll, dass etwas in Theodors Brust zu zerreißen droht.
»… Herr, höre unser Gebet … Zion streckt ihre Hände aus … und da ist niemand, der sie tröste …«
Amalie, seine Tochter, nein, es gibt keinen Zweifel, dieser helle Sopran gehört Amalie, und jetzt sieht er sie auch, sieht sie mit seinen eigenen Augen. Es ist Nacht, aber seine Tochter steht in diesem Gutshaus vor dem weit geöffneten Fenster und singt Mendelssohn-Bartholdys
Elias
hinaus in die schneestille Landschaft. Ein Oratorium, das es in Deutschland überhaupt nicht mehr geben darf, und die Gutsherrin Clara singt auch und begleitet sie am Flügel.
20. Rixa
»Gehen wir ein Stück?«
»Ja, sehr gerne.«
Wut hatte mich zu meinem Patenonkel geführt, wilde Entschlossenheit, endlich dieses Schweigen zu brechen und die Wahrheit zu erfahren, statt mich weiter in Mutmaßungen und Horrorphantasien zu verlieren. Aber nun, da wir das obligatorische Kaffeetrinken mit meiner Tante hinter uns gebracht hatten und allein waren, fand ich keine Worte. Ich hatte Angst, auf einmal wurde mir das klar. Angst vor dem, was ich mit meinen Fragen auslösen würde. Angst, ihn zu verlieren. Ihn und Elisabeth und Markus und all die anderen Retzlaff-Geschwister. Ich wollte nicht die Nestbeschmutzerin sein, die das Tabu brach und alte Wunden aufriss. Und dennoch blieb mir keine Wahl. Für mich. Für Amalie. Für meine Mutter.
Möwen kreischten und balgten sich um Muscheln, ein paar hartgesottene Touristen verschanzten sich in ihren Strandkörben. Die Sonne kämpfte mit den Wolken, verschwand wieder. Die Ostsee sah grünlich aus. Dieselbe Ostsee, wenn auch nicht mehr in Mecklenburg. Früher hätte man das mit einem einzigen Blick erkannt, weil im Osten am Strand so vieles fehlte, was im Westen selbstverständlich war: Ausflugsbote, Kanus, Surfbretter, Luftmatratzen. Jegliches Schwimmgerät, das auch
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