Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)
ich dagegen aufbegehrte.
»Komm, gehen wir zurück.« Mein Onkel sah erschöpft aus, älter. Geschrumpft. Ich fühlte mich selbst so. In meinem Kopf herrschte Chaos, ein Bildersturm, als habe jemand all diese Fragen und Satzfetzen und Erinnerungssplitter in ein Kaleidoskop gefüllt, das ein wild gewordenes Monsterkind nun mutwillig drehte und drehte und hin und her warf. Amalie und die Musik. Meine Musik. Mein verpatztes Examen. Ivo. Amalie. Meine Mutter, so still. Mein Patenonkel im KZ. Mein Großvater tut Buße.
Rühr nicht daran, Ricki, das ist zu schmerzlich.
Ich ging in die Hocke, schöpfte mit beiden Händen Wasser, tauchte mein Gesicht in die salzige Kälte. Einmal, noch einmal, richtete mich wieder auf.
»Wenn du nie in Sellin gelebt hast und 1950 direkt in den Westen gegangen bist, dann hast du meine Mutter als Kind überhaupt nicht erlebt, richtig?«
»Dorothea, nein.«
»Und wieso ist sie dann zu dir gezogen?«
»Ich war der Älteste und lebte schon in recht stabilen Verhältnissen. Ute und ich waren ja bereits verlobt und ich hatte die Arbeit in der Gärtnerei. Da haben die Eltern das so entschieden.«
»Und was hat sie dazu gesagt?«
»Sie war überwältigt, was es bei uns schon alles zu kaufen gab.«
Die Wirtschaftswunderseligkeit der Nachkriegszeit. Perlonstrümpfe und Butter und Wurst, so viel man wollte. War es so simpel? War das schlicht menschlich?
»Ihr wart euch praktisch fremd. Hat meine Mutter denn eure Eltern und die anderen Geschwister nicht vermisst?«
»Man war damals nicht so, Rixa.«
»Wie war man nicht?«
Er suchte nach Worten. »So kompliziert. So – psychologisierend. Dorothea hat sich wohlgefühlt bei uns. Sie mochte Ute auf Anhieb. Und sie wusste selbst, dass es drüben in der Ostzone keine richtige Perspektive für sie gab. Und dann lernte sie ja auch schon bald deinen Vater kennen.«
Und heiratete jung, sehr jung, und wurde schwanger. Und schuf uns ein Zuhause, das beinahe perfekt war. Nur die Gespenster, die blieben bei ihr.
»Weißt du, was ich glaube?«
»Nein.«
»Ich glaube, dass meine Mutter eigentlich gar nicht deine Schwester war.«
»Aber natürlich war sie das, was soll denn das heißen?«
»Ich glaube, dass sie Amalies Tochter war.«
»Aber – «
»Amalie ist vergewaltigt worden. Von einem russischen Soldaten. Oder –«
Ich biss mir auf die Lippen. Von eurem Vater. Ich schaffte es nicht. Schaffte es nicht, das auszusprechen. Und es war auch nicht wahr, es konnte nicht wahr sein. Jetzt, in Richards Gegenwart, kam es mir krank vor, dass ich das auch nur in Betracht gezogen hatte.
Ich spielte inBoltenhagen an diesem Samstagabend. Es war nicht mein bester Auftritt, ganz sicher nicht, aber ich hangelte mich durch mein Standardrepertoire, und als die letzten hartnäckigen Gäste schließlich doch noch in ihre Zimmer wankten, war ich selbst so müde von all den Popsongs und Schmusejazz-Evergreens, dass ich es gerade noch schaffte, den Transit von dem hässlichen Hotelparkplatz weg ins Grüne zu lenken und halbwegs legal zu parken.
Regen weckte mich am nächsten Morgen. Hunger und Durst und meine Blase. In einem Touristencafé kaufte ich zwei belegte Brötchen, Orangensaft und einen Becher Kaffee. Die Ostsee sah bleiern aus, verdickt, die Möwen hockten mit eingezogenen Köpfen in Reihe. Zwei Krähen mischten sie auf. Die Möwen empörten sich und verscheuchten sie, formierten sich wieder in ihrer Ausgangsposition. Doch die beiden Krähen schienen noch nicht genug zu haben, obwohl sie klar unterlegen waren. Ich parkte so, dass ich den Fortgang dieses Schauspiels beobachten konnte, trank meinen Kaffee und wählte die Handynummer meines Vaters.
»Rixa, nanu?«
Er war überrascht, denn wann rief ich ihn je an? Die Rabentochter. Die Rabenstiefschwester.
»Gut eigentlich. Ich habe einen Flügel gekauft. Er ist phantastisch.«
»Brauchst du Geld?«
»Ich arbeite, Papa. Ich bin erwachsen.«
»Ich dachte ja nur, weil du –«
»Ich habe ein Engagement in einem Hotel in Boltenhagen.«
»Oh. Schön.«
Er gab sich Mühe, so wie er sich früher auch um meine Mutter bemüht hatte. Der Ruhepol der Familie, auch wenn er, was Ivo und mich anging, meist außen vor blieb.
»Diese Fahrt nach Sellin damals, von der ich dir neulich erzählt habe. Ich glaube, da hat Mama erfahren, dass sie gar nicht Omas Tochter war.«
»Aber das ist doch völlig verrückt.«
»War sie danach verändert? Hat sie je so etwas gesagt?«
»Sie war immer sehr still, das weißt du
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