Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)
dort Pfarrer war, ist Amalie gestorben! Deine Schwester. Etwas musst du doch wissen!«
Er schwieg, ging jetzt langsamer, schwerfälliger. Oder bildete ich mir das ein?
»Vermisst du sie nicht?«
»Es ist so lange her.«
»Aber ihr beide wart beinahe gleich alt, nur ein Jahr auseinander.«
Wie Ivo und ich, doch das sagte ich nicht.
»Es waren damals schon sehr getrennte Welten, Jungen und Mädchen. Amalie wurde von früh auf schrecklich eingespannt, immer musste sie im Haushalt helfen. Dabei wollte sie eigentlich immer nur ihre Musik.«
Ihre Musik. Meine Musik. Musik, die meine Mutter nicht mochte. Deshalb? Wegen Amalie? Aber warum – wie hing das zusammen?
»Ich weiß wirklich nicht, was in Sellin geschehen ist. Ich war ja im Krieg. Und danach war ich im Lager. Bis 1950, Rixa. Ich habe nichts, wirklich gar nichts von Sellin mitbekommen in diesen Jahren. Ich wusste lange Zeit nicht einmal, ob sie überhaupt noch dort waren und lebten.«
»Aber –«
»Und umgekehrt war es genauso. Es hat fast zwei Jahre gedauert, bis meine Eltern vom Roten Kreuz den ersten Hinweis erhielten, dass ich nicht irgendwo in Sibirien verschollen oder in einem Massengrab verscharrt worden war, sondern lebte. Hier, in Deutschland.«
»In Deutschland warst du?«
»In Sachsenhausen.«
»Das war doch ein Nazi-Konzentrationslager.«
»Die Russen haben es weiter benutzt, um politisch Missliebige einzusperren.«
Wir liefen jetzt nicht mehr, wir standen. Mein Patenonkel blickte noch immer aufs Meer, doch er schien etwas anderes zu sehen. Onkel Riffraff, der immer so lustige Onkel, der mich in der Schubkarre herumgefahren hatte. Auf einmal fürchtete ich mich davor, er würde anfangen zu weinen.
»Dann warst du gar nicht in englischer Kriegsgefangenschaft?«
»Ich hatte Pech, einfach Pech. Die Engländer hatten mich schon wieder entlassen, ich war schon kurz vor Güstrow. Und dann muss ich mal austreten und sehe diese zwei kleinen Jungs im Wald mit Munition und einer Wehrmachtspistole Krieg spielen. Die waren höchstens acht und hatten keine Ahnung, wie gefährlich das war. Also habe ich ihnen das erklärt und die Pistole weggenommen. Ich wollte sie im Inselsee versenken. Aber ein paar russische Soldaten hatten mich beobachtet und werteten das als konspirativen Akt. Und so wurde ich verhaftet.«
»Aber das war nicht gerecht. Konntest du das nicht aufklären?«
»Gerechtigkeit …«
Er wandte sich vom Wasser ab, sah mir zum ersten Mal direkt in die Augen. »Weißt du, was mir in Sachsenhausen das Leben gerettet hat?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Die Bibel und die Musik. Die Bibel hatte ich bei mir, die ließen sie mir zum Glück, darin konnte ich lesen, wenn ich das Gefühl hatte durchzudrehen. Und weil ich Geige spielen konnte, haben sie mich ins Lagerorchester beordert.«
»Lagerorchester? Ich dachte, das gab es nur in Auschwitz.«
»Nein, die Russen hatten auch ein Faible für Musik. Häftlinge, die zum Orchester gehörten, durften proben und im Offizierskasino aufspielen. Vor allem aber wurden wir gründlich entlaust, bekamen etwas größere Portionen zu essen, und natürlich sorgten sie auch dafür, dass uns im Winter nicht die Finger abfroren.«
»Und dann?«
»Am 3. April 1950 wurde ich entlassen. Warum – ich weiß es nicht. Ich bin in Berlin sofort in den Westsektor gelaufen und von dort weiter nach Westdeutschland, bloß weg von den Russen.«
»Aber deine Eltern sind im Osten geblieben. Obwohl Opa doch immer gegen die Kommunisten war.«
»Ich glaube, meine Mutter wäre schon gern weggezogen. In ihrer Heimatstadt Leipzig war alles, was ihr einmal etwas bedeutete hatte, zerstört, und die Menschen, mit denen sie in Mecklenburg befreundet gewesen war, waren tot oder fort.«
Clara, dachte ich. Die Gutsherrin. Clara und ihr kleiner Sohn Daniel.
»Doch mein Vater wollte bleiben. Er fühlte sich seiner Heimat wohl verpflichtet. Und ich glaube, das war auch seine Art, Buße zu tun.«
Buße tun. Aber für was? Für seine politischen Verfehlungen oder seine privaten? All dieses Leid, all dieser Verlust. So viele neue Horrorgeschichten, die die Retzlaffs hartnäckig verschwiegen hatten.
»Du hast nie von Sachsenhausen erzählt.«
»Fünf verlorene Jahre, da gab es nichts zu erzählen. Ich war einfach nur froh, dass sie irgendwann vorbei waren.«
Die Retzlaffsche Disziplin, diese Stehaufmännchenmentalität, da war sie wieder. Nicht reden, nicht klagen, sondern handeln. Rixa ist zu empfindlich, hieß es früher, wenn
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