Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)
Retzlaff-Geschwister.
Du bist nicht meine Tochter.
Was war dieser Offenbarung meiner Großmutter vorausgegangen? Ein Streit? Ich wusste es nicht mehr, ich konnte mich nur noch an diesen Satz erinnern und an die hohe, panische Stimme meiner Mutter, die danach auf mich einredete. Aber warum waren die beiden überhaupt mit mir nach Sellin gefahren? Und wenn dieser Ausflug dazu gedacht war, meiner Mutter die Wahrheit über ihre Herkunft zu verraten, warum war dann nicht auch mein Großvater dabei gewesen, das Familienoberhaupt, der durch all seine seelsorgliche Erfahrung, noch dazu für eine Mitteilung solcher Tragweite, sehr viel besser geeignet gewesen wäre?
Ich saß sehr still, als mir mögliche Antworten auf diese Fragen einfielen. Antworten, die einen Sinn ergaben, auch wenn ich mir augenblicklich wünschte, dass ich mich täuschte. Aber die Antworten blieben trotzdem, ließen sich nicht mehr vergessen: Mein Großvater war in Sellin nicht dabei gewesen, weil er nichts von diesem Gespräch erfahren sollte. Er war nicht dabei, weil er selbst dieses Gespräch niemals hätte führen wollen.
Du bist nicht meine Tochter,
hatte meine Großmutter gesagt.
Meine
, nicht
unsere
. Warum? Vielleicht weil meine Mutter sehr wohl die Tochter meines Großvaters gewesen war. Seine und Amalies.
Theodor, 1943
Faulendes Fleisch. Der Gestank überwältigt ihn und es gibt keine Hand, die er halten könnte, keinen Arm, keine Schulter, es gibt im Halbdunkel dieses Krankenzimmers nur die fiebrigen Augen dieses Jungen, die ihn aus den Kissen anstarren, und das Geräusch seines röchelnden Atems.
»Sie verstecken sich neben der Landebahn.« Der Junge keucht auf. »Sie warten bis zum letzten Moment, erst wenn die Maschine losrollt, rennen sie hin.«
»Es ist jetzt gut, Junge, du musst dich beruhigen.«
»Nein, nein, bitte«, der flehende Blick des Jungen zwingt Theodor, sich noch näher zu beugen. Trost soll er ihm spenden, Segen geben, das Sterben erleichtern. Aber der Junge will keinen Segen, der Junge kämpft um jeden Atemzug, denn er will seine Geschichte erzählen. Der Junge, ach was, dieser eiternde Rumpf, den der Frost von ihm übrig ließ. Ein Rumpf mit einem Kopf und zwei brennenden Augen. Zwanzig ist er. Nebenan in der guten Stube seiner Eltern hängt ein Foto von ihm in Uniform, aufrecht und strahlend. Vorbei, für immer, das war einmal.
»… sie rennen hin und klammern sich ans Fahrgestell. Dann können unsere Wachen nicht mehr auf sie schießen und sie kommen doch noch raus …«
Wieder dieses Keuchen, mehrmals gleich, und die bläulichen Lippen verzerren sich. Der Junge lacht, begreift Theodor plötzlich, dieses schaurige Japsen und Zucken ist tatsächlich Gelächter.
Was soll er sagen? Was soll er tun? Er weiß es nicht, also hört er weiter zu, als der Junge erneut zu flüstern beginnt, zehn Minuten, eine Viertelstunde, eine halbe, bis es endlich vorbei ist mit ihm. Aber er, der Pfarrer, muss noch weiter durchhalten. Er muss bei der weinenden Mutter sitzen. Ist es ein Trost, dass sie ihren Sohn immerhin noch einmal wiedergesehen hat und in der Heimat beerdigen kann? Ja, das ist ein Trost, der einzige, für den sie empfänglich ist. Sie kann für ihn sorgen, auch jetzt noch. Im Gegensatz zu all den anderen Frauen, deren Söhne und Männer nie mehr zurückkommen werden, sondern einfach verschollen sind in der weißen Hölle von Stalingrad.
Gott ist gerecht. Was der Mensch sät, das wird er auch ernten. Theodor sagt sich das vor, als er wieder draußen ist. Er sagt sich so vieles vor, aber es hilft nicht. Fast 300 000 Mann, Hitlers sechste Armee, dahingerafft, tot, erfroren, verhungert. Der Übermacht des Feindes erlegen und den
ungünstigen Verhältnissen
, wie sie in dieser Sondersendung verlautbarten. Im aufrechten Kampf Europas gegen die Kommunisten.
Wo entlang geht es zurück nach Sellin? Der Schnee fällt in dicken, schweren Flocken, verschluckt seine Spuren, erschwert ihm die Sicht. Der Winterwald neigt sich über ihn wie eine Kuppel. Leben, ich lebe! Theodor atmet ein, saugt die eisige Luft tief in seine Lungen. Ein Jahr ist seit ihrem Umzug verstrichen, ein Jahr, seit er auf diesem Feld kniete und auf seinen Todesschuss wartete. Er hat es nicht glauben können, dass sie ihn dann doch gehen ließen, er kann es manchmal noch immer nicht fassen. Ein Dasein auf Abruf ist sein Leben seitdem geworden. Jeden Tag kann der Einberufungsbefehl ihn erreichen, jeden Tag wieder jemand an seine Tür klopfen, ihn holen.
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