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Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)

Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)

Titel: Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisa Klönne
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Ordnung.«
    Othello materialisierte sich aus seinem Schattenreich und begann, den Herd anzubeten, sobald die Fische in der Pfanne brieten. Ich zog mich an, trug Teller, Besteck und Gläser ins Verandazimmer und deckte den Couchtisch auf meinem Berliner Küchensofa für uns, damit wir beim Essen zugucken konnten, wie die Regenschwaden über den See trieben.
    Hatten meine Großeltern das auch manchmal beobachtet? War dieser Raum ihr Wohn- oder Esszimmer gewesen? Ich mochte Eikes Gesicht, gerade weil es nicht auf klassische Weise schön war. Die Nase ein bisschen zu krumm, der Mund ein bisschen zu groß. Seine Augen hatten die Farbe von Gletschereis und sahen trotzdem warm aus. Vorne ist da, wo es nimmt, hatte mein Großvater gesagt, als ich in der Pubertät meinen Pony nicht mehr schnitt, sodass er mir in die Augen fiel. Und nun saß hier ein Mann mit Ohrringen und langer, hellblond gefärbter Mähne neben mir mit meinen rotvioletten Haaren. Zwei aus dem Leben gefallene Musiker, die sich irgendwie durchhangelten.
    Wir aßen bedächtig, tranken Eikes Riesling dazu, und Othello brachte das Kunststück fertig, gleichzeitig Fischköpfe zu zerbeißen und zu schnurren. Die heile Welt, wenigstens für ein paar Minuten.
    »Möchtest du einen Espresso?«
    »Gerne, ja.«
    Eike kniete vor dem Regal mit meinen Schallplatten und CDs, als ich mit den Tassen zurück ins Wohnzimmer kam.
    »Du hast eine LP von Omega!«
    »Ja.«
    Ein Junge hatte mir die geschenkt. Ein anderer als der, mit dem ich in den Dünen gewesen war. Nicht einmal Ivo hatte von ihm gewusst, niemand, und unsere Leidenschaft füreinander überdauerte nur zwei Nächte.
    »Leg sie auf!«
    »Gern.«
    ÉLŐ war das ungarische Wort für
live
und konnte auch mit »am Leben sein« übersetzt werden, hatte mir der Junge damals erklärt. Die Doppel-LP war während eines Konzerts der Band im Budapester Kiss-Stadion aufgenommen worden. Ein Schatz, den mir dieser Junge am Ende unserer ersten Nacht geschenkt hatte. Eine Rarität, die in der DDR für ihn wohl nicht ein zweites Mal zu ergattern gewesen war. Er wollte mich heiraten, einen Ausreiseantrag stellen. Das hatte mir Angst gemacht, ich war ja noch nicht einmal achtzehn. Ich wollte ihm seine Schallplatte wieder zurückgeben, aber er bestand darauf, dass ich sie behielte. Damit du mich nicht vergisst, hatte er gesagt. Und damit du deinen Leuten da drüben beweisen kannst, dass wir im Osten auch was Gutes zu bieten haben. Er hatte mich mit seiner Großherzigkeit beschämt. Ich war schrecklich aufgeregt gewesen, als ich die LP über die Grenze mit in den Westen nahm, und ich sah das begehrliche Blitzen in den Augen eines jüngeren Zollkontrolleurs, doch zum Glück ließ er sie durchgehen. Omega. ÉLŐ. Oft und oft hatte ich diese Platten noch gehört. Ich hatte dadurch etwas über den sogenannten Ostblock verstanden, diese Welt hinter dem eisernen Vorhang. Ich hatte das Wesen der Dinge immer zuerst und vor allem durch die Musik verstanden.
    Ich lächelte, als ich das Cover in der Hand hielt. Fünf mehr oder weniger bärtige und langhaarige junge Männer in Silberanzügen, die in einer Art bläulich beleuchtetem Kellerraum mit über Putz verlegten Rohren nach leuchtenden Kugeln greifen. Eine Raumschiffvision aus dem Jahr 1979. Sie hatten weggewollt, alle. Höher hinaus. Nach den Sternen greifen. Diese ungarische Kultband ebenso wie Eike, ebenso wie Ivo und ich und dieser Junge, von dem ich nicht einmal mehr den Namen wusste.
    Die Papphülle glänzte und ließ sich aufklappen, sie war viel hochwertiger als die DDR-Cover. Die Platte wog schwer in meiner Hand, brachte die unzähligen Nächte, in denen wir früher Musik gehört hatten, zurück. Eine Huldigung war das, ein Ritual: das Reinigen der Platte, das sanfte Aufsetzen des Tonarms, leises Kratzen, die Drehgeschwindigkeit des Plattentellers nachjustieren, noch mehr Knistern, die ersten Töne. Niemand von uns hätte sich damals vorstellen können, wie das MP3-Zeitalter aussehen würde und dass man Musik oft nur noch häppchenweise konsumierte, ohne auf die Dramaturgie des Gesamtkunstwerks zu achten.
    Die ersten Akkorde, wie von weit her. Die Ekstase des Publikums, ihr rhythmisches Klatschen, ihr Rufen.
Omega! Omega!
Einmal war ich mit meinen Cousins bei einem Rockkonzert in Rostock gewesen. Die Band sagte mir nichts, ich hatte sie schnell wieder vergessen. Aber die Saalordner wachten die ganze Zeit darüber, dass niemand während des Konzerts von seinem Sitz aufsprang und zu

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