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Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)

Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)

Titel: Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisa Klönne
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ihn mit diesem Haus gemeinsam geerbt, doch die Sakristei war leer und ich hatte mich wie ein Eindringling in ihr gefühlt, schon als Kind war mir die Sakristei immer als der heiligste Ort einer Kirche erschienen, verbotenes Terrain, viel mehr noch als der Altarraum oder die Kanzel. Vielleicht lag es an der verschlossenen Tür. Der Abgeschiedenheit. Und wohl auch an der Tatsache, dass sich dort drinnen – erst dort, allein, abgeschirmt von allen Blicken – der Wandel unseres Großvaters, mit dem wir eben noch am Frühstückstisch gesessen und unser Sonntagsei verzehrt hatten, zum Pastor vollzog.
    »Wir könnten hingehen. Jetzt. Das ausprobieren.« Eike setzte sich auf.
    »Jetzt?«
    »Warum nicht. Es ist Sonntag.«
    Ein Sonntag ohne Gottesdienst, weil es in Sellin keinen Pfarrer mehr gab. Mein Großvater wäre dagegen Sturm gelaufen, meine Großmutter vermutlich noch mehr. Großvater. Großmutter. Ich konnte einfach nicht aufhören, so von ihnen zu denken. Es konnte ganz einfach nicht sein, dass dieser Mann, den ich geliebt hatte, dieser aufrechte Protestant, seine eigene Tochter vergewaltigt und geschwängert hatte, es war schlicht undenkbar.
    Es war kalt draußen, matschig. Immer noch goss es in Strömen.
    »Na los, wer zuerst da ist!« Eike rannte los, ein fliegender Nöck mit Spinnenbeinen. Über den Grabsteinen hing ein letzter Rest Zwielicht und ließ sie surreal wirken, überzeichnet, viel zu plastisch.
    »Machen wir Licht?«
    »Nein, lieber nicht. Sonst lockt die Festbeleuchtung noch jemanden aus dem Dorf her.«
    Ich schloss die Tür hinter uns ab und schaltete die Taschenlampe an. Licht geisterte über die Bänke, den Altar, die Fresken: Jesus und die Sünderlein, der Höllenschlund, die Engel mit ihren Posaunen, Petrus, Adam und Eva. Alle waren sie hier und erwachten zum Leben.
    Die Stille in der Sakristei kam mir anders vor als die im Kirchenschiff, dichter. Wir stellten uns mit den Gesichtern zur Wand in zwei gegenüberliegende Nischen. Der Geruch feuchten Steins stieg mir in die Nase. Mörtel. Kühle.
    »Du bist eine Wucht, Rixa Hinrichs.« Die Worte schwebten auf mich herab, von irgendwo. Körperlos.
    »Es ist schön mit dir.« Ich hauchte, kaum hörbar, doch kurz darauf kam Eikes Antwort.
    »Wahnsinn!« Ich drehte mich herum, sprach wieder laut, auch, um meine Verlegenheit zu überspielen.
    Hatte mein Großvater hier je so gestanden und Botschaften in die Ecken geflüstert? Botschaften welchen Inhalts? Für wen? Ich sandte den Lichtstrahl der Lampe auf die Reise: Ein Resopaltisch mit aufgequollener Platte, ein Stapel Gesangbücher darauf. Ein Haken mit einem Holzbügel. Eine Holztür zum Seitenausgang, durch den der Pfarrer die Kirche betreten und verlassen konnte, ohne von der Gemeinde gesehen zu werden. Hatten die Russen damals auch probiert, durch diese Tür in die Kirche zu gelangen? Wie war es meinem Großvater allein überhaupt gelungen, alle Kirchentüren zu verteidigen? Die Tür ließ sich öffnen, der kurze muffige Gang dahinter führte erst zum eigentlichen Nebenausgang. Der schwere Riegel an der Holztür zum Friedhof war neu, sonst hatte man hier nicht saniert. Die Wände waren grob behauener Feldstein, an denen schmuddelige Fetzen von Spinnweben klebten. Eine halbe ausrangierte Kirchenbank lehnte an der Längsseite. Der Boden bestand aus gestampftem Lehm, in den Ecken trockneten Mäuseköttel. Unter der Kirchenbank, in einem Gewölle aus Laub, Dreck und Spinnweben, entdeckte ich ein Holzkreuz. Das Kreuz, das mein Großvater der Legende nach der russischen Armee entgegengehalten hatte? War er selbst meistens durch diesen Eingang gekommen? Ich überwand meinen Ekel und hob das Kreuz auf. Es war wurmstichig und schlicht. Kein Jesus daran, nur die berühmten vier Lettern. INRI – König der Juden. Musste das Kreuz deshalb damals vom Altar weichen?
    Ich legte es auf die Bank, entdeckte im selben Moment in einem Spalt zwischen zwei Mauersteinen etwas Glitzerndes. Eine flache, rechteckige Dose aus Metall. Sie war leicht, und innen drin kullerte etwas hin und her, das klapperte.
    Die Wahrheit, vielleicht. Auf einmal hörte ich meinen eigenen Atem überlaut und das Rauschen des Regens auf der anderen Seite der Tür, und ich war unendlich froh, dass Eike nicht irgendeinen dümmlichen Witz riss oder durch die Zähne pfiff, sondern mir einfach die Lampe abnahm und sein Taschenmesser reichte, damit ich den angerosteten Deckel aufhebeln konnte.
    Das Erste, was ich sah, war eine Schleife aus

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