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Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)

Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)

Titel: Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisa Klönne
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Spitzenlitze, die um zwei Fotos mit Mäusezähnchenkante gebunden war. Als ich sie heraushob, fiel mir ein Hühnergott in die Hände. Ich löste die Schleife behutsam, betrachtete die beiden Schwarz-Weiß-Aufnahmen. Mein Großvater in Badehose in den Dünen der Ostsee. Eine junge Frau in einem schwarzen Bikini, der nach heutigen Maßstäben kein bisschen aufreizend wäre, auf einem Findling im Wasser. Eine Haarsträhne fällt ihr in die Augen, sie lacht, sie ist schön. Amalie. Ich drehte das Foto herum, erkannte die vertraute Handschrift meines Großvaters.
    18. Juni 1944. Geliebte! Tschaikowskys 5., der Walzer! Du darfst nicht sterben, nie!! Für immer, Dein D.
    Theodor. Dorl, der Kosename aus seiner Kindheit.
Nur seine Mutter hat ihn so genannt, Ricki, ihr hat er es erlaubt, sonst niemandem.
    Die
Winterreise
fiel mir wieder ein. Meine Großeltern und meine Mutter, damals in Poserin, drei Salzsäulen mit weit aufgerissenen Augen. Betrug. Verrat. Das war das Thema der
Winterreise
. Der Schmerz des verlassenen Liebhabers, für den es kein Zuhause mehr gibt, keinen Trost, nur die Einsamkeit einer Winternacht. Sie hatten das natürlich gewusst, sie dachten an Amalie. Nur ich war zu jung gewesen, um die Tragweite dieses Dramas auch nur annähernd zu ermessen. Ich fand Liebeskummer romantisch.

Elise, 1944
    »Dass solche in unserem armen, geschundenen Reich immer noch durchgefüttert werden.«
    »Und unseren Männern in Russland fehlt es an allem.«
    »Durchgreifen müsste man.«
    »Ab damit in die Anstalt.«
    Elise dreht sich herum und versucht die beiden Sprecherinnen zu identifizieren, die ihr Gift wie Schlangen zur vorderen Kirchenbankreihe zischen, selbst heute beim Erntedankgottesdienst. Blanke Gesichter blicken an ihr vorbei. Frauen. Kinder, ein paar hutzelige alte Männer. Elise wendet sich wieder nach vorn, sogleich geht das böse Getuschel hinter ihr weiter.
    »Unnütz, völlig unnütz.«
    »Na, wenigstens ist die Mutter von ihrem hohen Ross herabgestiegen und macht sich nützlich.«
    Elise tastet nach der kleinen, heißen Hand von Melinda und tauscht einen Blick mit Claras Mutter, die mit Heinrich und Elises eigenen Kindern sehr aufrecht und würdevoll auf der anderen Seite des Mittelgangs sitzt. Groß sind die Kinder alle geworden, auch Claras zwei sind nun schon dreizehn und zwölf, wobei groß bei ihnen leider nicht stimmt, so verwachsen, wie sie sind. Aber sie haben doch eine Seele und sie sind bei Verstand, und es ist furchtbar für sie, all diese Gemeinheiten anhören zu müssen. Aber dagegen ist kein Kraut gewachsen, auch nicht die mahnenden Blicke einer Pfarrfrau.
    »Schmarotzer.«
    »Schande.«
    Melindas Händchen krampft sich um Elises Finger, entspannt sich wieder, als endlich das Orgelvorspiel beginnt und alles andere übertönt. Bach spielt Clara heute, eine schwierige Partitur, die sie fehlerfrei meistert, wie immer. Seit sie den schwerhörigen Musiklehrer, der nun doch noch an die Front musste, als Kantorin vertritt, klingt die Orgel auf einmal wie neu, und die wenigen Seelen, die trotz des Kriegs noch im Kirchenchor singen, spornt Clara zu ungeahnten Höchstleistungen an, allen voran natürlich Amalie.
    Melindas Händchen verkrampft sich wieder, ihre Augen fixieren unverwandt den Schlund des Feuerdrachens, der die zur Hölle Verdammten ins Fegefeuer reißt. Elise stupst sie an, deutet auf Petrus zur Linken des Altars, hebt dann den Blick zu Jesus auf der Weltkugel. Wenn nur die Erwachsenen den Tag des Jüngsten Gerichts so fürchten würden wie die Kinder, wäre viel gewonnen. Oder nicht? Vielleicht ist das, was ihnen jetzt widerfährt, Gottes Strafe?
    Und der Herr hat schließlich allen Grund, ihnen zu zürnen, auch seinen treuen Protestanten. Zu spät, viel zu spät hat sich die Bekenntnissynode der Altpreußischen Union letztes Jahr im Oktober endlich zum fünften Gebot bekannt. Zu spät, viel zu spät, haben auch Theodor und sie beschlossen, das ihre zu leisten. Doch das Morden und Sterben geht weiter, auf den Schlachtfeldern genauso wie in diesen Lagern. Abertausende sind dort schon umgekommen, man hält es nicht für möglich, aber seitdem sie hin und wieder für ein paar Tage oder Wochen jüdische Flüchtlinge auf dem Dachboden verstecken – bis eines Nachts wieder jemand kommt und sie weiterlotst, zum nächsten Versteck, im nächsten Pfarrhaus oder wohin auch immer –, weiß sie, dass es wahr ist, und dass es für dieses Grauen schon längst keine Worte mehr gibt.
    Bleiche,

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