Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)
geschundene Nachtgespenster sind die, die es bis zu ihnen geschafft haben. Gestern erst hat Elise einer Frau eine Bluse und Wäsche zugesteckt, weil ihr alles in Fetzen am Körper hing. Das Einzige, was diese Menschen manchmal noch besitzen, sind Fotografien, die sie hüten wie Gold und ihr alle, immer, unbedingt zeigen wollen. Und dann geht dieses Raunen los, Namen, die sie beschwören, als müssten sie nicht nur Elise, sondern auch sich selbst davon überzeugen, dass diese Schwarz-Weiß-Antlitze tatsächlich Abbildungen von Menschen sind, die einmal gelebt haben oder vielleicht, irgendwo, wenn Gott gnädig ist, noch immer leben: der Vater. Die Mutter. Die Schwester. Die Frau. Die Kinder. Die Großeltern. All diese Namen, Gesichter, Geschichten, sie verfolgen Elise bis in ihre Träume.
Die Orgel verklingt, ein Moment tiefer Stille senkt sich über die Gemeinde, jetzt wagt zum Glück niemand mehr zu tuscheln, denn nun tritt Theodor aus der Sakristei und geht zum Altar. Hager haben ihn all die Sorgen gemacht, und doch ist er immer noch eine stattliche Erscheinung in seinem Talar, und die Kornblumen in den Krügen blitzen so blau wie seine Augen. Ja, die Kornblumen sind schön, passender als der Mohn, dessen Rot ihr auf einmal zu grell erschien. Zusammen mit den Äpfeln und Kürbissen, den gebundenen Ähren und ein paar Gläsern Eingemachtem haben sie doch noch ein wenig Erntedankstimmung in die Kirche gebracht, obwohl Amalie wieder einmal so schwierig war, mit den Gedanken ganz woanders, mürrisch und wortkarg, und als Elise sie rügte, brach sie in Tränen aus wie ein kleines Mädchen. Seit sie von dieser Rüstzeit an der Ostsee zurückkam, zu der sie Theodor begleiten durfte, geht das schon so. Nur noch Groll und dumpfes Brüten, schlimmer als je zuvor. Dabei war sie zuvor so glücklich darüber gewesen, dass Theodor sich doch noch dazu überreden ließ, es mit Clara als Organistin zu versuchen und ihr sogar die Leitung des Kirchenchors übertrug. Lange hatte er sich dagegen gesträubt und Elises Drängen schließlich doch nachgegeben. Denn Clara kann ja nichts für das liederliche Leben ihres Ehemannes. Früher war Franz nicht so, gestand sie ihnen unter Tränen am Küchentisch. Erst seit Heinrichs Geburt will er nichts mehr von mir wissen. Weil er mir die Schuld gibt, dass die Kinder so sind, wie sie nun einmal sind.
»Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.« Theodors schöner Tenor erfüllt die Kirche, zuversichtlich noch immer, so lieb, so tröstlich.
Nein, sie darf nicht klagen, im Gegenteil. Sie muss Gott dankbar sein und auf ihn vertrauen, jeden Tag, trotz allem. Ihr Mann ist noch bei ihr und nicht im Krieg. Er liebt sie noch immer, wenn auch nicht mehr mit der gleichen jugendlichen Leidenschaft, aber das sind die Zeiten, das ist das Alter. Und ihre Kinder sind gesund und sie leben, auch Richard hat die ersten Monate an der Front heil überstanden. Elise faltet die Hände zu einem stummen Gebet. Vielleicht hält Gott ja weiter seine schützende Hand über ihn, verschont ihn und lässt ihn wieder heimkehren, vielleicht wiederholt sich nicht das Schicksal seines Onkels, auch wenn Theodor deshalb Angstträume plagen.
»Der Herr sei mit euch –« Theodor hebt die Arme, sein Blick schweift hinauf zur Empore.
Und prompt setzt die Orgel ein, und dann, mit einer winzigen Verzögerung, die Gemeinde.
»– und mit deinem Geist.«
Aber etwas stimmt nicht, eine Stimme fehlt in diesem Gebrummel, eine Stimme, die sonst so deutlich daraus hervorsticht. Amalies Sopran. Amalie. Elise blickt sich um, kann ihre Tochter nirgendwo entdecken, auch nicht oben bei der Orgel, wo sie eigentlich sein sollte, denn sie muss doch gleich noch ihr Solo singen.
Was ist nun wieder los? Claras Mutter scheint Elises Unruhe zu spüren, sucht ihren Blick und lächelt ihr zu. So freundlich ist sie immer, so warmherzig, genau wie ihre Tochter. Ja, auch für Clara muss sie dankbar sein, ihre liebe, kluge Freundin. Und vielleicht hat Clara recht, vielleicht sind die Sorgen um Amalie ganz unbegründet. Vielleicht ist auch jetzt alles in Ordnung, und Amalie singt sich draußen ein, und das ist so mit Clara abgesprochen, sie hat ja manchmal recht eigenwillige Methoden.
»Wir wollen beten …«
Elise faltet die Hände erneut und senkt den Kopf. Darf man einen Mann, der Teile der Menschheit, ja ganze Völker einfach ausrotten will und die Welt und ihr Vaterland unaufhaltsam ins Verderben reißt, töten, wenn man ihn auf
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