Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)
fragte mich, was mit dem Alex, der mich nach Ivos Tod in den Armen gehalten hatte, geschehen war. Mit ihm, mit uns allen. Ich sehnte mich nach Ivo wie seit Jahren nicht mehr, dann, völlig irrational, nach meiner Mutter, wie sie früher gewesen war, und zugleich nach einem ganz gewöhnlichen Abend auf der Marina.
Dort würde ich nun ganz allmählich überlegen, ob ich meine Darbietung in der Lili unter ein bestimmtes Motto stellen oder mich ausschließlich von der Stimmung des Publikums inspirieren lassen wollte. Vielleicht würde ich in dem noch leeren Konzertsaal ein paar neue Übergänge und Hits ausprobieren oder ein bisschen improvisieren. Und danach würde ich etwas essen und mich umziehen und im Bembel noch einen Kaffee trinken. Ich würde mich auf meinen Lieblingsbarhocker setzen und zusehen, wie sich die Kellner der Frühschicht am Tischfußball warm spielten und mit den anderen lautstark auf die Einhaltung der Regeln pochen: Wer verlor musste quer unter dem Kicker durchrobben, beim zweiten Mal längs, und beim dritten Mal in Folge war eine Runde Freibier für die Gewinnermannschaft fällig. Es war albern, natürlich, und ich war dort vielleicht nicht gerade himmelschreiend glücklich, aber was war schon Glück, wie ließ es sich messen?
Es gab ja dort drüben nichts mehr für mich, und mein Bruder sorgte dafür, dass ich auf eine gute Schule kam,
hatte meine Mutter betont, wann immer sie von ihrer Übersiedlung in den Westen erzählte. Doch ihre Eltern blieben hinter der Grenze zurück. Ihre Eltern, ihr Heimatdorf, ihre Schulkameraden und drei ihrer Geschwister. Wieso war das Glück gewesen? Hatte sie tatsächlich nichts und niemanden vermisst, und wenn das wirklich stimmte, was sagte das über all die Kindheitsabenteuer aus, die sie mir nachts in mein Haar flüsterte?
Ich winkte nach der Kellnerin und bezahlte meine Suppe. Der Schnee fiel jetzt immer dichter, fast so, als leere jemand einen gigantischen Salz- oder Zuckerstreuer aus, und der Wind hatte aufgefrischt und trieb mir die Flocken ins Gesicht, sobald ich nach draußen trat. Ich zog mir den neu erworbenen Borsalino tiefer in die Stirn und versuchte mich auf das einzustimmen, was mich in der Wohnung meiner Mutter erwartete. Hatte sie einen Abschiedsbrief hinterlassen? Und wenn ja, was hatte sie darin geschrieben? Was und an wen?
Autos hupten, Passanten duckten sich in ihre Mäntel. Ein Trupp Schulkinder hüpfte mir entgegen, lachend in einen Wettstreit versunken, in dem es wohl darum ging, möglichst viele Schneeflocken auf einmal zu erhaschen, und dazu spielte mir irgendein durchgeknallter Toningenieur eine Kindheitsgeschichte meiner Mutter ins Ohr.
»Im August sind wir immer in die Blaubeeren gegangen, Rixa, nur wir Geschwister, oh, das war herrlich, es duftete so, und wir hatten im Nu violettblaue Münder und Finger und der Wald über uns war ein goldgrüner Schirm, fast wie die Kuppel einer Kathedrale. Aber wir waren nicht andächtig, nein, ganz und gar nicht, wir waren ja uns selbst überlassen und machten so unsere Späße. Die Zeit schien zu fliegen, wenn wir im Wald waren. Wir merkten kaum, dass das Blaubeerkraut unsere Arme und Beine verkratzte, und auf unsere Mückenstiche schmierten wir Spucke. Frühmorgens im ersten Tau ging es
los. Mir, der Kleinsten, schnallte meine Mutter den Tornister um den Bauch, die Älteren trugen zusätzlich noch Milchkannen und Eimer. Früher, vor dem Krieg, hatten die großen Geschwister am Ende eines Sammeltages auch immer noch den Beerenkönig gekürt, das hat Richard mir erzählt. Sie bauten dem Beerenkönig sogar einen Thron aus Moos und flochten ihm eine Krone aus Wiesenblumen.«
»Und wieso habt ihr das später nicht mehr gemacht?«
»Ach, ich weiß nicht mehr, Rixa, vielleicht, weil so viele der Geschwister schon aus dem Haus waren. Aber einmal hat meine Schwester Elisabeth nur für mich einen solchen Thron nachgebaut, damit ich verstand, wie das gewesen war, da war sie schon fast erwachsen. Das Moos war ganz weich, ach, das werde ich niemals vergessen. Und zum Erntedankfest hat meine Mutter immer ein großes Glas Blaubeermarmelade auf den Gabentisch am Altar gestellt. Und sie schmückte die Kirche so schön, mit Ähren und Mohn und den ersten Hagebutten. Ein solcher Überfluss war das, selbst in den Kriegsjahren muss das noch so gewesen sein. Da konnte man wirklich glauben, der Herr sei gnädig.«
Ich erreichte den Bahnhof Friedrichstraße. Wo entlang ging es zur U-Bahn? In der Vorhalle blieb
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