Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)
ich stehen, um mich zu orientieren. Menschen drängten an mir vorbei. Ein Händler verkaufte in Zellophan eingeschweißte Tulpen, ein anderer heiße Maronen. Zu Ivos allererster Vernissage war meine Mutter allein nach Berlin gekommen, mein Vater nahm Ivos Kunst damals noch nicht ernst. Anfang der Neunzigerjahre muss das gewesen sein, kurz nach der Wende, alles war noch offen, alles noch im Aufbruch. Meine Mutter reiste mit dem Zug, an einem strahlenden Spätsommertag. Sie trug einen hellen Leinenanzug und ein rotes Halstuch. Sie winkte und lachte, sobald sie Ivo und mich entdeckte, und als wir zur S-Bahn liefen, kaufte sie bei einem Händler spontan zwei riesige Bündel Sonnenblumen und legte sie Ivo und mir in die Arme. Ein leuchtender Tag war das, mit einem sehr hohen Himmel. Selbst die Berliner schienen zu lächeln. Aber dann, als wir hier am Bahnhof Friedrichstraße umstiegen, fiel mein Blick auf die Hände meiner Mutter, und ich sah, dass ihre Fingerknöchel ganz weiß waren, so fest hielt sie ihre Handtasche umklammert. Ostsektor, sagte sie. Warum musstet ihr ausgerechnet in den Ostsektor ziehen? Nur das, nichts weiter. Und sie lächelte immer noch, leugnete, dass sie Angst hatte, tarnte ihre Frage als Scherz.
Ich fand den Abgang zur U-Bahn. Reihte mich auf der Rolltreppe zwischen nasse Mäntel und graue Gesichter. Glück. Unglück. Verpasste Chancen. Tränenpalast hieß die Abfertigungshalle der Grenzübergangsstelle am Bahnhof Friedrichstraße im DDR-Jargon, fiel mir ein. Weil sie ein Ort des Abschieds war. Weil die Reise für Bürger mit ostdeutschem Pass in dieser Halle unweigerlich endete. Jetzt war das Historie, beinahe vergessen, jetzt gab es im Tränenpalast Kabarett und Konzerte. War die Übersiedlung in den Westen für meine Mutter wirklich einfach nur ein Glück gewesen? Das konnte nicht sein, schon als Kind hatte ich geglaubt, unter ihren Worten den Schmerz zu fühlen, doch sie ließ sich nie dazu überreden, ihre ausschließlich positive Schilderung zu relativieren.
Und meine Großeltern, wie ging es ihnen? Hasste mein Großvater Berlin, weil die Mauer für ihn ein Symbol für das Trennungsdrama war, das seiner Familie geschah, nur drei seiner neun Kinder blieben schließlich mit ihm im Osten? Doch meine Großmutter hatte Berlin gemocht, irgendwann vor dem Krieg hatte sie hier eine
Schwanensee
-Aufführung besucht, einmal wohl auch eine Kunstausstellung. Ich weiß noch, wie hell ihre Stimme klang, wenn sie davon erzählte.
Elise, 1921
Hat sie die Schwellung auf ihrer Wange doch nicht gut genug kaschiert? Oder ist sie zu stark geschminkt, ist es das, was der Mutter nun schon wieder missfällt? Elise senkt den Blick auf ihren Teller. Ihre Lippen fühlen sich steif an. Müde vom Lächeln, denkt sie, und spießt ein Stück Apfelkuchen auf ihre Gabel. Er ist perfekt, natürlich, die Mutter hat den Zuckerguss mit der halben Zitrone gerettet, die eigentlich für Vaters Sonntagsforelle gedacht war. Der ahnt von diesem herandräuenden Ungemach nichts und redet sich wieder einmal in Rage über den Krieg und die Schmach von Versailles und die Franzosen, die das Deutsche Reich mit ihren Reparationsforderungen in den Ruin treiben, und über die sozialdemokratischen Stümper, die den raffgierigen Hugenotten keinen Einhalt gebieten – eine endlose Litanei, auch das Gehüstel der Mutter kann ihn nicht mehr bremsen, wenn er so in Fahrt ist. Und Hermann und sein Kommilitone Theodor ziehen mit. Beide haben im letzten Kriegswinter das Notabitur abgelegt, um noch an der Westfront zu dienen. Beide kämpften während der Maiunruhen 1919 in Bayern Seite an Seite im Freikorps Epp gegen die Kommunisten.
»Eine heilige Pflicht ist das doch gewesen«, erklärt Theodor. »Wir müssen den gottlosen Bolschewiken Einhalt gebieten, vor der roten Gefahr darf niemand die Augen verschließen!«
Das ist nach des Vaters Geschmack, da leuchten seine Augen fast wieder so wie zu Kriegsbeginn, als er den Soldaten im Bahnhof Woche für Woche selbst geschnürte Päckchen mit guten Sachen und aufmunternden Worten in die Zugabteile reichte und mit ihnen Kampflieder anstimmte, für das Deutsche Reich und den Kaiser und den sicher geglaubten Sieg.
»Wir wurden in einen Gewaltfrieden gezwungen«, klagt er jetzt, »oh, möge doch noch einmal ein Führer wie Bismarck kommen. Einer, der für unsere Sache einsteht, statt vor unseren Feinden zu kuschen. Einer mit fester Hand und dem richtigen Glauben!«
Der Kuchen klumpt in Elises Mund, will
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