Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)

Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)

Titel: Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisa Klönne
Vom Netzwerk:
Gleich die erste Ballade ist Carl Löwes Vertonung von Goethes
Erlkönig
, drängend und gespenstisch, ein Ritt in den Abgrund. Tränen schießen Elise in die Augen. Ein Kind zu verlieren, wie grausam das sein muss. Ein kleines, lebendiges, geliebtes Wesen aus Fleisch und Blut, geboren aus dem eigenen Leib, das dann doch in den Armen seines machtlosen Vaters erstirbt. Wieder muss sie an die Soldaten in den Zügen denken. Auch sie waren einst Säuglinge, unschuldig und abhängig von der Liebe ihrer Eltern.
    Sie wirft einen verstohlenen Blick auf ihre Begleiter. Hermann hat die Augen geschlossen, ob ihm die Musik wirklich zu Herzen geht, kann sie nicht entscheiden. Doch der Fremde, Theodor, sieht aus, als ob er fühle wie sie, als ob auch ihm vor der Macht des Erlkönigs grause. Ein langes, fast greifbares Schweigen folgt auf den letzten Ton, scheint sich mehr und mehr zu verdichten, und dann, als diese Stille nicht mehr auszuhalten ist, geht ein kollektives Ächzen durch die Reihen und der Beifall brandet auf und will nicht enden. Aber schon perlt das nächste Lied über sie hinweg, heller und freundlicher diesmal, wie ein Fluss, nein, wie ein Wasserfall. Und darum geht es ja auch in dieser Ballade.
Der Nöck
heißt sie, der Wassermann. Und auch der ist ein Zauberer, denn er lockt die Menschen mit seinem Gesang, der lieblicher klingt als die Nachtigall. Immer weiter strömen die Tonfolgen, strömen und fließen, reißen sie mit sich fort. Erst als der letzte Akkord verklungen ist, bemerkt sie, dass dieser Theodor sie betrachtet. Elise tastet nach ihrem Taschentuch, ganz heiß wird ihr plötzlich, ganz seltsam. Aber Theodor sieht sie immer noch an, unverwandt und wissend, als ob er und sie ein Geheimnis teilten. Seine Augen sind wirklich ganz außergewöhnlich blau, selbst hier im Halbdunkel scheinen sie zu leuchten. So sieht der Himmel aus, denkt sie. Der Himmel in seiner Heimat, weit oben im Norden. Wo der Nöck in den Seen wohnt. In Mecklenburg.

5. Rixa
    Auf der Fußmatte meiner Mutter stand WELCOME, was nicht einer gewissen Ironie entbehrte, da sie so gut wie nie Besucher empfing. Irgendein wohlmeinender Nachbar hatte ihre Tageszeitungen und einige Werbeprospekte von unten mit hochgebracht und vor ihre Wohnung gelegt. Ich hob sie auf, klemmte sie mir unter den Arm. Wie lange würde es wohl gedauert haben, bis man meine Mutter vermisst und den Hausmeister oder die Polizei informiert hätte? Oder war das schon geschehen? Ich dachte an meinen letzten Besuch im September, von dem ich nicht gewusst hatte, dass es mein letzter war. Ich hatte protestiert, als sie mir ihre Schlüssel gab, ich sei doch so gut wie nie in Berlin, hatte ich argumentiert. Aber sie ließ sich nicht beirren, wie immer, wenn sie etwas wirklich wollte.
    Nun tu mir doch diesen Gefallen, Rixa. Ich möchte meine Schlüssel keinen Fremden anvertrauen.
    Sie hatte in Berlin keine Freunde gefunden, und soweit ich wusste, pflegte sie auch keine Kontakte zu Bekannten aus Köln oder Schulkameraden. Sie schien solche Beziehungen auch nicht zu vermissen, schon früher war das so gewesen. Sie lebte mit uns, sie pflegte Kontakte mit ihren Geschwistern, sie empfing, wenn auch ungern, hin und wieder Geschäftsfreunde meines Vaters. Ich dachte an den Apfelkuchen, von dem sie nicht gesagt hatte, dass er ihr nicht schmeckte, und an all das Ungesagte, das zwischen uns gelastet hatte, so dunkel und klebrig wie der Rübensirup, den wir als Kinder eine Zeit lang gern aßen. Zum Abschied hatten wir die Luft neben unseren Wangen geküsst und uns umarmt, ohne uns richtig zu berühren. Und dann war ich abgehauen, schnell, ohne mich noch einmal umzusehen. Weggerannt vor dem Schmerz, der Verzweiflung und vor meinem unweigerlichen Scheitern, irgendetwas von dem, was geschehen war, zu lindern. Ich hatte mich darauf konzentriert, mich selbst zu retten, und dafür das Leben meiner Mutter riskiert.
    Ich schloss die Wohnungstür auf und tastete nach dem Lichtschalter. Der Flur lag im Halbdunkel, die Wohnung war warm. Ich schaltete das Licht an, bevor ich die Tür hinter mir zuzog, und bemerkte im selben Moment, wie meine Kehle sich zuschnürte. Etwas war falsch hier, ganz falsch. Es sah zwar alles ordentlich aus, doch es roch, nein, es stank. Katzenpisse! Ich hatte den Kater vergessen, von dem mir meine Mutter bei unserem Neujahrstelefonat erzählt hatte.
Eines dieser meist hochneurotischen Viecher, die sie hin und wieder im Auftrag des Katzenschutzvereins bei sich aufnahm und

Weitere Kostenlose Bücher