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Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)

Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)

Titel: Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisa Klönne
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und will einfach nicht rutschen, dabei essen sie so etwas Gutes mit Zucker und Butter so selten, weil die spärlichen Rationen, die sie für ihre Lebensmittelmarken erhalten, dafür einfach nicht reichen. All diese fröhlichen jungen Männer in den Zügen, die mit dem Vater gesungen und gelacht haben und nie mehr zurückgekehrt sind. Oder als Krüppel. Oder als Irre. Gas haben sie auf den Schlachtfeldern benutzt, Chlorgas und Senfgas. Es ist nicht zu begreifen, dass diese beiden jungen Männer hier an ihrer Kaffeetafel das erlebt haben sollen und nun mit fast kindlicher Gier Kuchenstücke vertilgen.
    »Und Sie, Elise, interessieren Sie sich für die Politik?«
    Sie schreckt hoch, blickt direkt in Theodors blaue Augen.
    »Ich weiß nicht, ich würde gern …«
    Jetzt schauen alle sie an, und der Vater furcht warnend die Brauen.
    »Ich mag lieber Frieden als Krieg«, stottert Elise, was natürlich nicht das ist, was der Vater von ihr erwartet, aber Theodor lächelt sie an, als ob das die richtige Antwort auf seine Frage sei, und sagt: »Ja, natürlich!«
    Sehr blaue Augen hat er. Und strohblondes Haar und blitzweiße Zähne. Und groß ist er, viel größer als Hermann, ein echter Recke. So sieht doch kein Mann aus, der aus der Kriegshölle kommt und andere tötet? Aber vielleicht hat er das ja auch gar nicht getan und redet nur so laut daher, um dem Vater zu imponieren, und in Wirklichkeit findet er gar keinen Gefallen am Soldatendasein und an der Politik?
    Ja, so muss das sein, denkt sie später, als sie den Eltern endlich Adieu gesagt haben und durch die Straßen der Südvorstadt zum Gewandhaus eilen. Sie geht in der Mitte, Hermann und Theodor haken sie unter, sobald sie außer Sicht von der Hardenbergstraße sind, und ihr Atem dampft weiße Zuckerwattewolken aus ihren Mündern, wie am Nachmittag der der Pferde.
    »Kommt, wir sind spät«, Theodor zieht sie ungestüm vorwärts.
    Elise lacht auf. Ach, wenn man doch ewig so weiterlaufen könnte, immer weiter und weiter, in ein neues Leben! Viel zu schnell erreichen sie das Musikviertel und mäßigen ihre Schritte, damit sie bei all den feinen Herrschaften in Pelz und Zylinder keinen Anstoß erregen. Und dann liegt das Gewandhaus vor ihnen, überwältigend schön mit den hohen Säulen und dem goldenen Licht, das aus seinen Fenstern flutet.
    »Res severa est verum gaudium«, liest Theodor leise vor.
    »Wahre Freude ist eine ernste Sache«, bestätigt Elise.
    »Sie beherrschen Latein?«
    »Das ist ein Zitat von Seneca. Der Architekt Gropius hat es als Motto über den Eingang meißeln lassen, weil es schon das alte Gewandhausgebäude schmückte«, wiederholt sie, was der Vater ihr erklärt hat.
    »Um die Kontinuität zu wahren, und weil dieses Motto natürlich immer noch gültig ist.« Hermann zwinkert ihr zu, und sie fühlt eine Welle der Dankbarkeit, weil er nicht verrät, wie es sich mit ihren Sprachkenntnissen tatsächlich verhält, trotz all der Mühe, die sich alle mit ihr geben.
    Wahre Freude ist eine ernste Sache. Der erste Kapellmeister, der in diesem Konzertgebäude engagiert war, Felix Mendelssohn-Bartholdy, schaut mit grimmem Blick von seinem Granitsockel auf sie herab, als wolle er ihr diese Botschaft noch einmal höchst persönlich ans Herz legen. Aber die Putten zu seinen Füßen tragen einen Silberpelz aus Raureif und lächeln, ein entzückendes Bild. Mendelssohn-Bartholdy liebte Schubert, vor allem dessen Lieder, ja er gilt gewissermaßen als ihr Entdecker. Schubert selbst war es hingegen nicht vergönnt, den Siegeszug seiner Musik zu erleben, hört sie den Vater erklären. Ach, er meint es doch gut mit ihr, er kann nur die Demütigung nicht verkraften, dass er als Kaufmann gezwungen ist, ihre wöchentlichen Butterrationen mit der Briefwaage abzumessen. Und natürlich sorgt er sich, dass seine einzige Tochter die Lebensuntauglichkeit seiner Schwester geerbt haben könnte, da sie so viel träumt und viel lieber malt und zeichnet, statt sich für die wichtigen Dinge des Lebens zu interessieren.
    Gemeinsam mit den anderen Konzertgästen werden sie förmlich ins Innere des Gewandhauses gesogen, geben ihre Mäntel ab und suchen ihre Plätze im kleinen Konzertsaal. Und schon wird es dämmrig und der Bassbariton Paul Bender tritt auf die Bühne, nickt seinem Pianisten zu und schließt für ein paar Sekunden die Augen. Als ob er nach etwas lauschen würde, sieht das aus, etwas tief in ihm Verborgenem, das nur er ganz alleine hören kann.
    Und dann geht es los.

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